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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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Teilidentitäten konstituiert die politische Kultur Europas. Diese vielfältigen Gemeinschaftsbezüge verhindern auch eine Verabsolutierung einzelner Ansprüche. Aus diesen Schichtungen ergeben sich natürlich Spannungen. Diese Spannungen auszuhalten,
ja schöpferisch werden zu lassen, ist für das Werden einer europäischen Identität von größerer Bedeutung als die Jagd auf vermeintlich vorhandene Ganzheitsideale. Individuum und Gesellschaft, Aufklärung und Glaube, Kontinuität und Wandel – diese Spannungsbögen muss die politische Kultur Europas produktiv werden lassen.
    Das Wissen um Bedingtheit und Begrenzungen der politischen Kultur Europas verspricht nur die Chance einer Identitätsfindung, es garantiert sie nicht. Ob Europa diese Chance wahrnimmt, ist eine Frage seiner Mündigkeit.
2. 1 Die Zukunftsfähigkeit europäischer Solidarität
    In den zurückliegenden zehn Jahren hat die europäische Integration eine substanzielle weitere Verdichtung erreicht: 23 Real betrachtet ist Europa in seiner heutigen Gestalt jedoch eher ein Raum historisch beispielloser Möglichkeiten. Keine Friedenskonstellation in der Geschichte des Kontinentes war so stabil wie die Europäische Union – keine hat friedlichen Interessenausgleich und Wettbewerb so produktiv verbunden wie die Integration.
    Zwei Projekte stehen symbolhaft für die künftigen Möglichkeiten der Integration: die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Vollendung der territorialen Einheit Europas. Beide präzisieren die früher vage Vorstellung von der Finalität des Integrationsprozesses. Europas politische Einheit wird nicht aus der Macht und aus der Abwehr äußerer Gefahren entstehen, sondern aus dem Markt und der Behauptung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in einer globalisierten Weltwirtschaft. Europas territoriale Reichweite entscheidet sich nicht imperial, sondern wird Ergebnis einer freiwilligen normativen Übereinstimmung sein – sie umfasst diejenigen europäischen Demokratien, die bereit und in der Lage sind, sich einem offenen gemeinsamen Markt anzuschließen, gemeinsame Werte, Normen und Standards zu teilen und ohne nationale Vorbehalte im politischen System des europäischen Staatenverbundes mitzuwirken. Beide Projekte enthalten zugleich Belastungsproben für das System der Integration und den Zusammenhalt seiner Mitglieder – diese Lasten produktiv in einen Systemwandel umzusetzen, könnte zur Triebfeder weiterer Integration werden.
    Die kommenden zehn Jahre werden markante Schritte zur Vollendung der Integration notwendig machen; was bisher als ferne Zukunft und abstraktes Zielbild der Gemeinschaftsbildung vage beschrieben bleibt, wird bald
zur politischen Entscheidung stehen. Drei Grundfragen werden in diesem Prozess zu klären sein:
    1. Wie weit reicht die innere Konsistenz politischer Einheit, und was ist zu deren Erhalt und Verdichtung nötig; welches Maß braucht der Solidarrahmen Europas?
    2. Wie organisieren die Europäer ihre neuen Nachbarschaften, wo liegen deren Risiken, und was sind die angemessenen Handlungsoptionen?
    3. Welche weltpolitische Rolle und Verankerung soll das künftige Europa insbesondere angesichts der wachsenden Bedrohung durch internationalen Terrorismus anstreben, wie können außenpolitische Handlungsfähigkeit gewonnen und strategische Partnerschaften geknüpft werden?
    Die Integration Europas hat seit ihren Anfängen stets mehr im Sinn gehabt als die Maximierung des Nutzens ihrer Mitglieder. Die Europäische Union verbindet wirtschaftlichen Aufschwung und politische Stabilität mit Strukturen des Interessenausgleiches in produktiver Weise. Diese Verknüpfung schafft zugleich eine weitere Dimension der Integration: Integration bedeutet Teilnahme an und in einer Schicksalsgemeinschaft. Von der gemeinsamen Kontrolle der ehemals kriegswichtigen Sektoren Kohle und Stahl über den Binnenmarkt und die Entwicklung der außenpolitischen Zusammenarbeit bis zur Schaffung einer gemeinsamen Währung binden die Europäer zunehmend ihre wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse, Interessen und Ziele – und damit auch ihre Zukunft – aneinander.
    Gleichzeitig vollzieht sich ein weitgehend geräuschloser Abschied vom alten Europa. Mit den Erweiterungsbeschlüssen des Europäischen Rates in Helsinki wird erstmals nicht mehr nach einem europäischen Selbstverständnis als Kitt für die große Europäische Union gefragt. Damit ändert der Integrationsvorgang seinen Charakter – von

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