Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
den einen begrüßt, von anderen kritisiert. Bemerkenswert erscheint, dass ein politisches System seine Identität wechselt ohne eine begleitende politisch-kulturelle Selbstverständigung seiner Bürger, nicht einmal seiner Eliten. Die Entscheidung, die Union mit Wirkung vom 1. Mai 2004 von 15 auf 25 Mitglieder zu vergrößern und zusätzlich Bulgarien, Rumänien, der Türkei und zuletzt Kroatien und Mazedonien den Kandidatenstatus anzutragen, fand ohne eine orientierte Debatte statt. Der Abschied vom Versuch, europäische Identität zu vertiefen und damit eine kulturelle Grundlage für politische Handlungsfähigkeit zu schaffen, wird sich historisch als Achillesferse Europas erweisen.
Das alles hat seinen eigenen Wert – aber es ist weit entfernt von der alten Vorstellung, die ein föderales Europa mit staatsähnlichen Qualitäten anstrebte. Der neue europäische Stabilitätsraum wird in seiner Handlungsfähigkeit näher an den Vereinten Nationen und der OSZE als an der früheren
Europäischen Gemeinschaft liegen. Schon die schieren Größenordnungen eines im Rahmen des Möglichen liegenden Europas der 28 (EU-25 plus Bulgarien, Rumänien und die Türkei) machen das anschaulich. Die Bevölkerung der Europäischen Union wird von heute 455 Millionen auf 539 Millionen anwachsen; etwa doppelt so viel wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Das Bruttosozialprodukt wird um 15 Prozent über dem der Vereinigten Staaten liegen. Die wirtschaftliche Heterogenität wird wachsen, mit Folgen für die ökonomische Struktur und die Beitrittsfähigkeit. Ein solches Potenzial könnte einerseits die Voraussetzungen einer Weltmacht definieren: 35 Prozent der Weltproduktion und 30 Prozent des Welthandels liegen in europäischen Händen. Andererseits wird das Europa der 28 von extremen Unterschieden gekennzeichnet und mit internen Konflikten befasst sein.
Bereits in der Erweiterungsrunde 2004 hat sich das europäische Gemeinwesen bis an die Grenzen Russlands, der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens verschoben. Im Europa der 28 wird die Europäische Union außerdem direkte Grenzen zu Syrien, zum Irak, zum Iran, zu Armenien und Georgien haben. Diese direkten Nachbarschaften stellen eine stabilitätspolitische Herausforderung dar, deren Ausmaß bisher kaum in ihrer ganzen Tragweite erfasst wurde.
Ein solcher Großraum, der sich über die Grenzen des bisherigen alten Europas dehnt, wird nicht mehr nach dem Muster der Römischen Verträge regierbar sein. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Entweder man versteht die Erweiterung der Europäischen Union als Schlussphase einer großen Erfolgsgeschichte. So wie frühere Imperien wird auch die Europäische Union durch Überdehnung ihrer Raumvorstellung erodieren und eines Tages untergehen. Oder man lässt sich auf die neue Lage ein. Dann wird die Europäische Union eher die Rolle eines Krisen regelnden Systems kollektiver Sicherheit – ähnlich der OSZE ergänzt durch einen gemeinsamen Markt – übernehmen. Die Stabilitätsqualität eines solchen Raumes sollte nicht unterschätzt werden. Alle weiterführenden Ambitionen aber werden nur in Teilen der großen Europäischen Union zu verwirklichen sein. Währungsunion, Verteidigungsunion – alles dies muss mit eigenen Entscheidungsprozeduren und eigenen institutionellen Vorkehrungen versehen werden.
Was mit dem Flexibilitätsartikel des Vertrages von Amsterdam schüchtern begonnen wurde, was den Konzepten der Differenzierung zugrunde lag: In der nächsten Ära der Europapolitik wird es zu Ende gebracht werden müssen. So wie in den 1950er Jahren die Existenz von UN und NATO die Gründerväter nicht daran hinderte, EWG, EGKS und Euratom zu gründen, so wird künftig die Existenz der EU die Staaten nicht daran hindern dürfen, ihre regionalen Teilgemeinschaften zu gründen. Das Ziel dieser Teilgemeinschaften
müsste es sein, Effizienz und Handlungsfähigkeit zu gewinnen, die im Europa der 28 und mehr Mitgliedstaaten für viele Themen nicht mehr zu erreichen sein wird.
Wer sich Ausmaß und Tragweite dieses Wandels vor Augen führt, spürt das Fehlen einer Debatte umso schmerzlicher. Im Sinne einer sentimentalen Vergangenheitsschwärmerei ist heute für eine Idee namens Europa zweifellos kein Platz. Aber als ein systematisches Konzept zum Beitrag einer weltpolitischen Ordnung braucht der Kontinent eine Idee von sich selbst.
Anmerkungen
1 Schmierer, Joscha: Mein Name sei Europa. Einigung ohne Mythos und Utopie, Frankfurt/Main 1996,
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