Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Steppe.
Die Vielfalt hat überdauert, indem sie sich stets selbst regulierte: Das trifft nicht nur auf die Beziehungen der Staaten zueinander, sondern auch auf das Verhältnis der einzelnen Staaten zu ihren Bürgern und auf die Beziehungen der Bürger untereinander zu. Der balance of power, also dem rechtsförmig geregelten Ausgleich zwischen den politischen Kräften im europäischen Staatensystem, entspricht in der Innenpolitik die Demokratie: Hier geht
es um den Ausgleich zwischen den Interessen der Bürger und ihrer Vereinigungen auf rechtsförmiger Grundlage, meist in Gestalt einer Verfassung; nicht nur die Rechte, Pflichten und Interessen der einzelnen Bürger werden ausbalanciert, sondern auch die Befugnisse der staatlichen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren und deren Macht auf diese Weise begrenzt wird. So stellt die Staatenwelt Europas eine dauernde und entscheidende Signatur des Kontinentes dar, eines Europas der fruchtbaren Antagonismen.
2. Nationen
Aber dennoch ist eines im Lichte der Geschichte gewiss: Wie alle historisch begründeten politischen und kulturellen Ordnungsvorstellungen sind auch Staaten und Nationen keine Gebilde für die Ewigkeit. Sie sind Erscheinungen der europäischen Zivilisation, in Umbruchzeiten unserer Geschichte entstanden, haben Veränderungen und Entwicklungen durchlaufen, und werden einmal auch wieder vergehen und anderen Zuständen menschlicher Gemeinschaft Platz machen.
So hat der Begriff der Nation im Laufe seiner Geschichte vielfachen Bedeutungswandel erfahren, bis er zu seinen heute geläufigen Inhalten und Konnotationen kam. Natio ist ein alter, aus der römischen Antike überlieferter Traditionsbegriff, der ursprünglich Geburt oder Abstammung als Unterscheidungsmerkmal von Gruppen aller Art bezeichnet. Cicero etwa fasst unter diesem Begriff eine Gruppe des Volkes, nämlich die Aristokraten, zusammen; für Plinius ist eine Philosophenschule eine natio . Auffallend häufig finden wir aber auch natio als Gegenbegriff zur civitas , also als unzivilisierte Völkerschaft, die keine gemeinsamen Institutionen kennt – etwa in demselben Sinne, in dem die Briten heute von natives reden, die Deutschen von Eingeborenen. Die Heiden der Vulgata, die Barbaren des Isidor von Sevilla, die ungläubigen muslimischen Horden des Bernhard von Clairvaux sind nationes . Auch die germanischen Großstämme des frühen Mittelalters, die Franken, Langobarden oder Burgunden werden als nationes beschrieben, weil sie zwar jeweils einer Herkunft sind, scheinbar jedoch ohne jenes innere politische und gesellschaftliche Gefüge, das ein zivilisiertes Volk ausmacht. Neben ähnlichen Bezeichnungen wie gens oder populus führt dieser Wortgebrauch zu der spätmittelalterlichen Bedeutung von nationes , die europäische Großvölker meint, die ihrerseits aber mehrere gentes oder nationes umfassen können.
Man soll nicht glauben, hier habe es sich bereits um Volksnationen im Sinne des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gehandelt: Im vorrevolutionären
Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts wurde dieser Begriff entweder als vage Herkunftsbezeichnung oder aber im ständisch-rechtlichen Sinne benutzt. Auf dem Konzil von Konstanz 1414 bis 1418 wurde festgelegt, dass nach Nationen abzustimmen sei, aber es fehlte ein klares Kriterium für diesen Begriff, sodass bis zuletzt die Zahl und Eingrenzung der Nationen umstritten blieb. Studenten an mittelalterlichen Universitäten wurden ebenso nach nationes unterschieden wie die Kaufleute in Gent und Antwerpen: Landsmannschaften also, die aber ungenau umschrieben waren; der natio germaniae an der Universität Bologna gehörten ebenso Sachsen wie Böhmen an, nicht aber Süd- und Südwestdeutsche, die sich in der Gemeinschaft der natio alemanniae wieder fanden.
Wo aber die natio das Politische streifte, da waren nicht diejenigen gemeint, die etwa eine gemeinsame Sprache oder verwandte Dialekte sprachen, sondern nur diejenigen, die im status politicus oder in der Qualifikation der societas civilis standen. Mit anderen Worten: »Nation« bezeichnete bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Gesamtheit der in den dafür vorgesehenen Institutionen politisch handelnden Stände. Die deutsche Nation bestand aus den auf dem »immerwährenden« Reichstag zu Regensburg versammelten Reichsständen, die englische trat im Parlament zu Westminster in Erscheinung, die französische in den Generalständen. Als das Reich 1711 mit der »ungarischen Nation« den Frieden von
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