Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Fundamentals, Oxford 2003.
Hagen Schulze
Europa: Nation und Nationalstaat im Wandel
In einer Epoche, deren ganzer Stolz darin zu bestehen scheint, nationalstaatliches Denken zugunsten einer europäischen Perspektive hinter sich zu lassen, mag es paradox klingen; aber nichts ist so europäisch wie Europas Zersplitterung in Nationen und Nationalstaaten. Die Vielfalt in der Einheit zeichnet Europa aus, seit es gedacht worden ist; die Pluralität der europäischen Staatenwelt, die Buntheit nationaler Identitäten und ihr andauernder Streit unterscheiden diesen Kontinent von jeher von den großflächigen Kulturen der anderen Kontinente. »Erst durch das Auseinanderbrechen der Christenheit«, so der französische Soziologe Edgar Morin, »konnten solche ureigenen europäischen Realitäten wie der Humanismus, die Wissenschaft und die Nationalstaaten entstehen, und erst durch die Auseinandersetzungen und Antagonismen zwischen den Nationalstaaten konnte sich der Begriff Europa verbreiten und durchsetzen«. 1
1. Einheit durch Vielfalt
Die Vielfalt des europäischen Kontinentes zeigt sich auf allen Ebenen. Das beginnt mit den Landschaften: Gebirge, Ebenen, Seenplatten, Wald- und Heidegebiete, die sich in Asien, in Amerika oder Afrika gleichförmig über immense Weiten erstrecken, liegen in Europa nahe beieinander. Daher die Vielfalt der Art, wie die Menschen den Boden nutzen, ihre Nahrungsmittel erzeugen, Häuser, Städte und Straßen bauen. Ähnlich verhält es sich mit den Sprachen Europas; gewiss ist das Indoeuropäische gemeinsamer Sprachgrund fast aller europäischen Idiome, aber die sprachliche Fragmentierung, von den großen slawischen, lateinischen und germanischen Sprachfamilien bis hinunter in die regionalen Dialektabweichungen, ist der wichtigste Grund für die bleibende Vielfalt der Regionen, Völker und Staaten und für die Hindernisse, die einem einheitlichen Europa entgegenstehen.
Der Reichtum an Sprachen überschneidet sich mit der Vielzahl der Milieus, der Regionen, der Nationen und vor allem der Staaten: Europa war
nie anders als politisch zerstückelt zu denken. Die europäische Geschichte war immer auch eine Geschichte der Kriege zwischen den Staaten Europas, aber gerade hierin zeigt sich ihr Paradox: Während die Staaten Asiens über die Jahrtausende hinweg entweder schnell entstanden und vergingen oder aber zu großen despotischen Hegemonialmächten aufstiegen, balancierten sich die vielen Staaten Europas gegenseitig aus. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation konnte nur deshalb bis 1806 bestehen, weil es gestaltlos und ohne Macht war und innerhalb seines Rahmens einer Vielzahl von Staaten eine weitgehend souveräne Existenz erlaubte; und Ahnliches galt in größerem Maßstab für Europa.
Immer wenn ein Staat so viel Macht zusammenballte, dass er Europa zu beherrschen drohte, schlossen sich die übrigen Staaten zu Koalitionen zusammen, um die Übermacht eines Einzelnen zu verhindern; war der Herausforderer niedergeworfen, kam es zu anderen Machtungleichgewichten, die zu neuen Bündnissen und zu neuen Kriegen führten. Dabei blieb aber der Besiegte stets Teil des Ganzen, wurde nie von der Landkarte gewischt, sondern als gleichberechtigter Partner im europäischen Machtgeflecht akzeptiert – die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts blieben lange Zeit die große Ausnahme. So bildete sich trotz häufiger Kriege ein stabiles europäisches Mächtegleichgewicht heraus, dessen Zusammenspiel rechtlich geregelt war: Das ius publicum europeum, das europäische Völkerrecht, entstand und damit ein Instrument des vernünftigen Ausgleiches zwischen den Staaten, das bis zum Ersten Weltkrieg seine Funktionsfähigkeit zur Aufrechterhaltung der europäischen balance of power unter Beweis stellte.
Dies ist eines der entscheidenden Elemente europäischer Identität: die Vielfalt der Ideen, Kulturen, Nationen und Staaten, die dauerhaft blieb, also nie für längere Zeit der Vorherrschaft einer Idee, einer Kultur oder eines Staates anheim fiel. Das gilt insbesondere für das europäische Staatensystem, dem es stets gelang, Vorherrschaftsansprüche seiner Mitglieder zurückzuweisen, ob es sich um Schweden im 17., Frankreich im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert oder um Deutschland und Russland im Verlauf der vergangenen 200 Jahre handelte. Erst Hitlers wahnwitzige Weltherrschaftspläne sollten die Selbstregulierungskraft Europas überfordern, die Rettung kam über den Atlantik und aus der asiatischen
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