Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Sathmar schloss, bedeutete »Nation« keineswegs die Gesamtheit des ungarischen Volkes, sondern, wie es im Vertrag ausdrücklich heißt, »Barone, Prälaten und Adlige Ungarns«. Im Falle Ungarns oder auch Polens handelte es sich in diesem Sinne also um reine Adelsnationen, während in West-, Mittel- und Nordeuropa von Fall zu Fall auch bürgerliche und gelegentlich sogar bäuerliche Stände zur Nation gezählt wurden. Im Übrigen muss, wenn wir uns hier auf die großen Nationen in unserer Betrachtung beschränken, daran erinnert werden, dass bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein Nation auch immer im kleineren, landständischen Sinne verstanden wurde. So konnten zum Beispiel die Ostpreußen noch um 1800 als Nation bezeichnet werden, weil sie einen Landtag hatten, in dem allein das »Land« politisch in Erscheinung trat, auch unter der »absoluten« Monarchie der Hohenzollern. Das heißt, die Nation des ancien régime , soweit sie politisch in Erscheinung trat, war eine Ständenation; sie existierte, sofern sie direkt oder indirekt an politischen Entscheidungen beteiligt war. Der einfache Mann auf dem Acker oder auf der Straße nahm an der so verstandenen Nation nicht teil.
Auf der Schwelle von Alteuropa zur Moderne, im Verlauf des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, wandelte sich die Idee der Nation gründlich. Mit der Bevölkerungsexplosion, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts den
Kontinent ergriff, mit der Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft, mit der Modernisierung der Verkehrs- und Postverbindungen, mit der Verbreitung von Lese- und Schreibfähigkeit, der eine ungeheure Ausweitung der Buch- und Zeitschriftenliteratur entsprach, kurz, mit der Entstehung moderner »Öffentlichkeit« war eine tief greifende Krise der Milieus einhergegangen, die bisher der Gesellschaft Struktur und Sinn gegeben hatten. Die alten Bindungen, Mythen und Loyalitäten verblassten; der einst feste, im Geistigen und Religiösen verankerte Sozialkörper der ständisch-agrarischen Gesellschaft brach auf und entließ viele Einzelwesen, die nach neuer Sinngebung suchten, sofern sie nicht allein mit der nackten Daseinsfürsorge befasst waren.
Der Ruf der Zeit nach Umwertung aller Werte wurde aus vielen Richtungen beantwortet. Nicht mehr an die göttliche Ordnung wurde geglaubt, sondern an das Recht der Einzelnen auf Freiheit und Glückseligkeit – »pursuit of happiness«, wie die Amerikanische Revolution verhieß, die säkulare Devise des europäischen Liberalismus. Die Idee der Gleichheit mündete in dem Gedanken der Volkssouveränität, der sich mit der Idee Rousseaus verband, nach der nur die Gesamtheit der Individuen, ihr Zusammenschluss zum Volk, als politisch handelndes Subjekt existieren könne. Im Volk inkarniert sich der Gemeinwille, vor ihm hat sich alle Herrschaft zu legitimieren: Demokratie wie Tyrannei in ihren modernen Erscheinungsformen finden hier ihre Wurzeln. Die alte Welt mobilisierte Abwehrkräfte, die ihrerseits massenwirksame Ideologien ausbildeten; der Konservativismus verlor seinen ursprünglichen Charakter als elitäre Abwehrfront gegen den Aufstand des »Pöbels« und erhielt gelegentlich seinerseits einen Zug ins Pöbelhafte.
So gebar das Europa des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von konkurrierenden Ordnungs- und Legitimationsideen, die in »Bewegungen« und Parteien gerannen, die allesamt imstande waren, große Menschenmengen zu mobilisieren und sie für Ideen und Programme auf die Barrikaden zu schicken, ohne sich jedoch jeweils ganz gegen die Konkurrenzideologien durchsetzen zu können. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erwies sich, dass auf Dauer keine staatliche Ordnung bestehen konnte, die nicht fähig war, diese Vielzahl auch gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte einzubinden. Die große Integrationsideologie, die den Bürgerkrieg verhinderte und über die Grenzen der auseinander strebenden Interessen hinweg Einheit stiftete, war die Idee der Nation, die sich im Zuge dieser Umbruchepoche in demselben Maß, in dem sich die Legitimitätsgrundlagen der Staaten vom Gottesgnadentum zur Volkssouveränität wandelten, von der Ständenation zur Volksnation überging.
In der Umbruchzeit des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, einer Zeit der Entwurzelung, der sozialen Atomisierung, des Glaubensverlustes, bot der Nationalismus dreierlei: Orientierung, Gemeinschaft und Transzendenz. Die Identifikation mit der Nation vereinfachte die komplizierten
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