Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
– die »Gründer und Wiederhersteller von Staaten« – neben den Religionsstiftern als die »großen Männer«, die geschichtsmächtigen großen Individuen. Zu diesen »Erweckern« zählt die deutsche Nationalbewegung neben Herder den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der im Winter 1807/1808 im französisch besetzten Berlin in seinen »Reden an die deutsche Nation« die Deutschen zur nationalen Regeneration aufgerufen hatte, den »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn und den Publizisten Ernst Moritz Arndt. Die Griechen führen den Dichter Rigas Velestinlis und den großen Philologen und Sprachschöpfer Adamantios Korais an, die Iren rühmen Daniel O’Connell, den wortgewaltigen Volkstribun, und den Dichter Thomas Davis. Die Polen zählen zu den »Erweckern« den Historiker Joachim Lelewel und den Dichter Adam Mickiewicz, der die humanitäre Mission des polnischen Volkes verkündete, die Tschechen den
Historiker Frantisek Palacky’, aber auch wegen des berühmten Slawenkapitels in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« von 1791 den in Ostpreußen geborenen Johann Gottfried Herder.
Dass diese Unterscheidung zwischen einer subjektiven Nationalität in Westeuropa, namentlich Frankreich, und einer objektiven nationalen Identität in Mittel-, Ost- und Südeuropa durchaus nicht nur eine Konstruktion der Historiker ist, sondern sehr reale politische Folgen hatte, zeigt das Beispiel der Elsässer: Sie, die sich früh zur Französischen Republik bekannt hatten und zu Franzosen geworden waren, blieben wegen ihrer Sprache in den Augen der Deutschen unentrinnbar an Deutschland gebunden. Die tragischen Folgen dieser Unvereinbarkeit zweier nationaler Identifikationsmodelle lassen sich bis in die Gegenwart beobachten.
Allerdings erweist sich bei näherer Betrachtung, dass die Nationen nicht so sicher und objektiv zu definieren waren, wie es ihre Propagandisten behaupteten. So ist die gemeinsame Sprache, also das noch am eindeutigsten nachweisbare Merkmal von »Nation«, ursprünglich in sehr vielen Fällen Ergebnis sehr bewusster Sprachplanung, ein tief in die Alltagssprachen und Dialekte eingreifendes Standardisierungsverfahren, und dies umso stärker, je weiter man von West- nach Osteuropa schaut. Eine verbindliche deutsche Hochsprache entstand erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, und das Tschechische, das Slowakische, das Norwegische, das Rumänische oder das Griechische, all diese Sprachen existierten nur noch als bäuerliche Mundarten, bevor sie von wenigen Intellektuellen als nationale Hochsprachen wieder belebt wurden.
Und selbst für Frankreich gilt, dass die Formel der nation une et indivisible keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Beschwörungsformel war, eine gedankliche Vorwegnahme für eine Nation, deren Einheit erst geschaffen werden musste. Im Februar 1790 revoltierten die Bauern in Südwest-Frank-reich, weil sie die Befreiungsdekrete der Nationalversammlung falsch verstanden hatten und meinten, sie seien jetzt von sämtlichen Lasten befreit. Der Abbe Gregoire, Mitglied der Nationalversammlung, ging den Ursachen für das Missverständnis seiner Mitbürger nach, und er fand zu seinem großen Erstaunen heraus, dass die Sprache der Dekrete aus Paris den meisten Franzosen fremd war. Nur in 15 der 83 französischen Departements wurde durchweg französisch gesprochen; in den übrigen Departements herrschten Dialekte (das patois ), der Abbe zählte deren 30, die vom Französischen so stark abwichen, dass dieses als Fremdsprache gelten musste, die lediglich von den städtischen Ober- und Mittelschichten gesprochen wurde. Südlich der Garonne herrschte gar eine völlig andere Sprache, die langue d’oc ; Racine hatte einst behauptet, dass er im midi ebenso einen Dolmetscher benötige
wie ein Moskowiter in Paris. Dass, abgesehen von den Regionen um Paris, die Sprache Voltaires und der Menschenrechtserklärung in Frankreich kaum verbreiteter war als im übrigen West- und Mitteleuropa, war eine schockierende Erkenntnis. Mit dem Schulgesetz vom 21. Oktober 1793 wurde verfügt, dass alle Kinder Französisch lesen und schreiben lernen sollten. Der Abgeordnete Barere erklärte im Namen des Ausschusses für Unterrichtswesen, dass fortan die Sprache »eins wie die Republik« werden müsse. Bis dahin war es ein langer Weg; die Einheit von französischer Nation und französischer Sprache ist erst im Laufe des 20. Jahrhunderts vollständig verwirklicht worden. Dies in einem Land, in dem wie in kaum
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