Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Zusammenhänge und klärte das Problem der Loyalität; vor allem in Mittel- und Osteuropa, wo zwischen der ersten polnischen Teilung von 1772 und dem Wiener Kongress von 1815 die Landesherrschaften vielfach wechselten, wo der Herrscher von heute der Feind von morgen sein konnte, bot die Idee der Nation Orientierung und Entscheidungshilfe. Die nationale Gemeinschaft trat überall dort ein, wo sich die älteren, traditionellen Milieus auflösten. In der levée en masse von 1793, in den Freiheitskriegen von 1813, in den Befreiungskriegen und Aufständen der ost- und südosteuropäischen Völker wurde die neue Gemeinschaft nicht nur behauptet, sondern auch als sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit erfahren. Öffentliche Feste, von den fêtes révolutionnaires der Französischen Revolution bis zu den deutschen Völkerschlachtsfeiern, bestätigten die Erfahrung der Nation immer wieder aufs Neue; sie schafften das authentische Gefühl des Gemeinschaftserlebnisses und bestätigten die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem größeren Ganzen.
Üblicherweise neigen Historiker dazu, zwei klar voneinander trennbare Typen der modernen Nationenbildung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu konstruieren, wobei Frankreich und Deutschland als einander scharf entgegengesetzte Beispiele dienen. Auf die Frage, was die Nation sei, antwortete der Abbe Sieyes: »Ein Verband von Menschen, die unter dem gleichen gemeinen Recht leben und von ein und derselben gesetzgebenden Körperschaft vertreten werden.« 2 Die Nation der Französischen Revolution war die Gemeinschaft aller politisch bewussten Staatsbürger auf der Grundlage der Ideen von der Gleichheit aller und der Volkssouveränität. Wer sich nicht zum revolutionären Dritten Stand bekannte, war von der Nation ausgeschlossen.
Umgekehrt galt, dass zur Nation gehörte, wer sich zu ihr bekannte; so fasste der Württemberger Karl Friedrich Reinhard beim Bekanntwerden der Nachricht von der Flucht Ludwigs XVI. den Entschluss, »als Franzose leben und sterben zu wollen«. Er war damit Franzose, wurde eine der bedeutendsten Gestalten der französischen Diplomatie und sogar Außenminister Frankreichs. Die Nation in französischem Verständnis war Sache der freien Entscheidung jedes Einzelnen.
Ganz anders der deutsche Fall: In jenen mehr als 300 mitteleuropäischen Territorien, in denen vorwiegend deutsch gesprochen wurde, gab es seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, also seit 1806, keinen institutionellen,
aber auch keinen ideologischen Rahmen, in dem sich die Nation für die Gegenwart definieren konnte. Die deutsche Nation war daher eine Zukunftsvision, die sich nur in ihrer gemeinsamen Sprache und in ihrer gemeinsamen Geschichte wieder erkennen konnte: eine aus der Vergangenheit antizipierte Utopie, unklar und weit mehr das Gefühl als den Verstand ansprechend. »Was ist des Deutschen Vaterland?«, fragt Ernst Moritz Arndt in seinem »Vaterlandslied« von 1813, das in gewisser Weise die erste deutsche Nationalhymne darstellt, und gibt schließlich die Antwort: Das deutsche Vaterland ist überall dort, wo deutsch gesprochen wird. Die deutsche Nation wurde also als objektives Merkmal konstituiert gemäß der Idee Johann Gottfried Herders von der fundamentalen Individualität des Volkstums, die ausschließlich durch die gemeinsame Sprache begründet sei. In diesem Sinne war also die Nation unabhängig vom Willen der Personen: Wer deutsch sprach, musste Deutscher sein. Und Ähnliches galt für die große Mehrzahl der europäischen Nationen, für Italien ebenso wie für die Bevölkerung in den Vielvölkerreichen Osteuropas: Wo die Nation erst erkämpft und hergestellt werden musste, da war es die Sprach- und Kulturgemeinschaft, die sich zur Nation erklärte.
Allenthalben in Mittel-, Ost- und Südeuropa spielte sich Ähnliches ab: Man sprach von nationaler Wiedergeburt, von Neubeginn, Erwachen, Erweckung, von risorgimento , von einem historisch einmaligen Gründungs-, ja Schöpfungsakt, vor dem alle bisherige Geschichte zur Vorgeschichte verblasste. Und überall waren es die wenigen »Erwecker«, die Intellektuellen, die davon ausgingen, dass die Nation sich in der einheitlichen Sprache manifestiere und sprachliche Uniformität Voraussetzung eines Nationalstaates sei. Es waren also in erster Linie die Dichter, die Philosophen, die Historiker und Philologen, die die Nationen Europas aus der Taufe hoben. Friedrich Schleiermacher bezeichnete sie
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