Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
für politische Bildung. Der Herausgeber dankt allen Autoren für ihre Mitarbeit am guten Gelingen dieser Bände. Besonderer Dank gilt Nicole Schley, durch deren fachkundige redaktionelle Arbeit eine Publikation mit einem homogenen Gesamtansatz entstanden ist.
Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld
Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (C . A . P)
der Ludwig-Maximilians-Universität, München
Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
1.
Die historische Ausgangslage
Werner Weidenfeld,
Europa – aber wo liegt es?
Die Geschichte gönnt Europa keine Atempause. Nach dem Ende der machtpolitischen Statik, die vom Konflikt zwischen Ost und West geprägt war, zeichnete sich die Folgezeit durch eine gewisse Ratlosigkeit über die Baumuster für die Zukunft Europas aus. Die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Entwicklungen war das Kennzeichen dieser »Ära ohne Namen«: Integration und relative Stabilität im Westen, Desintegration und Instabilität im Osten.
Mit der erfolgreichen Erweiterungsrunde im Jahr 2004 hat sich diese Zwischenzeit ihrem Ende zugeneigt, und neue Antworten auf die Schicksalsfragen Europas kristallisieren sich heraus: Die Ordnung um den integrierten Kern der Europäischen Union etabliert sich als Zukunftsmuster für die Entwicklung des Kontinentes. Doch muss die Europäische Union als Trägerin solcher gesamteuropäischer Erwartungen noch fünf Herausforderungen bestehen, um auch in dem noch jungen Jahrhundert erfolgreich weiter zu bestehen: die Fortsetzung des Erweiterungsprozesses oder die Entwicklung alternativer Instrumente zur Einbindung weiterer Staaten, die Gestaltung des Verhältnisses zu den neuen Nachbarn nach der Erweiterung 2004, die Modernisierung ihrer Wirtschaft und die überfällige Neuordnung ihrer Institutionen, die durch die Ratifizierungskrise der EU-Verfassung verzögert wird. Auch der Ausbau der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik steht im Mittelpunkt des europäischen Interesses.
Der Krieg im Kosovo verlieh der langjährigen Forderung nach mehr europäischer Handlungsfähigkeit eine komplett neue Bedeutung. Diese ursprünglich nur in Kreisen akademischer Europa-Fachleute erhobene Forderung wird nun zu einer elementar fassbaren Kategorie europäischer Überlebensfähigkeit. Schon zweimal, bei den Verhandlungen um die Verträge von Maastricht und Amsterdam, ist die Europäische Union angesichts dieser Hürden zu kurz gesprungen. Und auch der Vertrag von Nizza kann in diesem Zusammenhang nicht als durchschlagender Erfolg gewertet werden. Um den Weg zum Zusammenwachsen des Kontinentes zu ebnen, muss Europa vor allem eine überzeugende Antwort auf die Frage nach seiner Identität geben, denn hierin liegt der Schlüssel zur Erklärung der europäischen Misere. Jedes politische System bedarf zu seiner Handlungsfähigkeit
eines Rahmens, auf den sich die Begründungen für Prioritäten und Positionen beziehen. So existiert in keinem politischen System eine politische Ratio gleichsam als Ding an sich, ohne Bezug auf einen elementaren Konsens, auf gemeinsame Interessen und Perspektiven. In jedem politischen System greift die politische Auseinandersetzung des Tages zurück auf den von allen geteilten historischen Erfahrungshorizont. Von dort bezieht die Politik die Argumentationshilfe, wenn es um die Erklärung ihrer Maßnahmen geht. Europa kann auf diese Ressource gemeinsamer Selbstwahrnehmung aber nur sehr begrenzt zurückgreifen. Somit erweist sich die schwache Identität als die eigentliche Achillesferse der Europäischen Union.
Manche verbinden Sorgen mit der Beantwortung der Frage nach den gemeinsamen Bezugspunkten: Würde eine feste Verortung europäischer Identität nicht in erster Linie dazu dienen, sich nach außen abzugrenzen, Länder und Gruppen einfach aus Europa »herauszudefinieren«? 1 Gleichgültig, ob man diese Bedenken teilt, Europa kann sich der Suche nach der eigenen Identität nicht entziehen. Wer die intellektuellen Wellenbewegungen des Kontinentes aufmerksam verfolgt, dem kann dieser Bedarf an Orientierung zur Frage nach Europa nicht entgehen. Mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses haben sich die Europäische Union und ihre institutionellen Vorläufer EWG und EG niemals leicht getan, stets waren sie geschäftsmäßig, unheroisch und zivil. Die europäische Integration kann sich – anders als die an ihr mitwirkenden Nationalstaaten – nicht auf nationale Mythen stützen, die Zusammengehörigkeitsgefühle wecken. 2
Weitere Kostenlose Bücher