Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
relativ spät finden sich hier die Räume gemeinsamer Kultur zu großen territorialen und politischen Einheiten zusammen. Noch weiter östlich liegt die dritte »Zeitzone«, wo zu Anfang des Prozesses der Nationenbildung weder größere kulturelle noch territoriale und politische Einheiten existieren. Zur Herstellung von Nationen in diesem Raum gehört oft nicht nur eine regelrechte »Kulturkonstruktion«, sondern auch die Assimilierung oder Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen. Jene Verbindung von nationalem Bewusstsein und seiner politischen Institutionalisierung hat den Freiheitskräften in Europa ebenso Raum gegeben wie den nationalistischen Perversionen des politischen Denkens und Handelns.
Die europäische Verquickung von nationaler Dynamik und nationalistischer Sprengwirkung zwingt den Europäern im 20. Jahrhundert drastische Verschiebungen ihres politischen Status auf: Zunächst ist Europa das Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Welt. Nicht einmal ein halbes Jahrhundert später ist Europa aus der Zentrallage an die weltpolitische Peripherie abgedrängt. Nach zwei tragischen Weltkriegen verkommt Europa zu einer geschundenen Region, in der die inzwischen entstandenen Supermächte ihren Konflikt austragen.
Der europäische Weg weist also auch in der Neuzeit markante Differenzen zur Entwicklung der anderen Hochkulturen auf:
1. den demokratischen Verfassungsstaat als politische Ordnungsform;
2. die Nationalstaaten als territoriale Ordnungssysteme;
3. die autonome Wissenschaft mit dem methodischen Prinzip der intersubjektiven Kontrollierbarkeit und dem regulativen Ziel der rationalen Wahrheitssuche;
4. den Kapitalismus als zentrale Schubkraft der industriellen Entwicklung, ursprünglich verbunden mit einer religiös bedingten Erfolgsmotivation, die in wirtschaftliches Gewinnstreben, Konsumverzicht und Arbeitsrationalisierung umgesetzt werden konnte.
Dass diese gemeinsamen Elemente gerade im europäischen geographischen Raum ein so dauerhaftes Gebilde hervorbringen konnten, kann zu Recht als »das Wunder Europa« bezeichnet werden. 7 Es lässt sich nur aus dem Zusammentreffen einer Vielzahl historischer, geographischer und kultureller Besonderheiten erklären, derer sich sonst keine andere Hochkultur erfreute.
Wenn man die europäische Geschichte skizzenhaft betrachtet, dann spürt man, wie dicht Licht und Schatten beieinander liegen. Europa kennt den Geist der Bergpredigt ebenso wie die Herrschaft der Tyrannen. Zu keiner Epoche ist Europa politisch vereint gewesen, nie haben seine Bewohner eine gemeinsame Sprache gesprochen, nie zur gleichen Zeit unter einheitlichen sozialen Bedingungen gelebt. Nirgendwo sonst prallt eine solch ausgeprägte Vielfalt auf so engem Raum aufeinander. So stehen logischerweise die vielfältigen historischen Erscheinungen Europas in Traditions- und Wirkungszusammenhängen. Die dichte Vielfalt lässt kein isoliertes Nebeneinander, sondern nur ein Miteinander zu – ein Miteinander, das von Freundschaft bis Krieg alle Formen sozialer Beziehungen praktizierte. Die Geschichte Europas stellt sich letztlich als ein tief greifender dialektischer Konflikt zwischen zwei Grundtendenzen dar: dem Gegeneinander der Nationen, Interessen, Weltanschauungen und ihrem Zusammenhang, der Differenzierung und der Vereinheitlichung. 8 In diesen dialektischen Konflikt ist alles verwoben, was Last und Leiden europäischer Geschichte, Leistungen und Abgründe europäischer Politik ausmacht. Die europäischen Völker spüren, dass sie aufeinander angewiesen sind; sie können sich der Beschäftigung mit ihren Nachbarn nicht entziehen – sie suchen dennoch in der Unterscheidung von ihnen die eigene Identität. Erst in dieser dialektischen Auseinandersetzung entsteht das spezifisch »Europäische« der europäischen Identität: »Nur auf dem Umweg über das Vorhergegangene und das Fremde hat der Europäer Zugang zum Eigenen.« 9 Europäische Identität ist insofern nur als Ergebnis eines komplizierten Kulturprozesses zu erfahren.
1.2 Integration als neuer Baustein europäischer Identität
Nach dem Zweiten Weltkrieg verleiht der Prozess der europäischen Integration dem Konflikt zwischen Nähe und Differenzierung ein neues Gesicht. Den Westeuropäern gelingt es, ihre scheinbar schicksalhaften kriegerischen Auseinandersetzungen zu überwinden und einen friedlichen Rahmen für die konstruktive Beilegung ihrer Differenzen sowie die Bündelung ihrer Kräfte zu schaffen – durch ihren
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