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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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Umso mehr muss sich der Blick jetzt wieder stärker auf den geistigen Horizont, auf die grundlegenden Antriebe und Hindernisse richten. Man ist geneigt, die klassische Frage aus Goethes und Schillers »Xenien« auf Europa anzuwenden: »Europa – aber wo liegt es?« Nicht als geographische Prüfung, sondern auf der Suche nach der geistigen und kulturellen Gestalt Europas ist diese Frage heute gestellt. Es ist die Frage der Europäer nach sich selbst. Dabei geht es nicht um akademisch geschliffene Definitionen, sondern um die subjektive Disposition der Europäer. Was ist europäisch an ihrem Denken, Empfinden, Handeln? Jegliche intellektuelle Brillanz der Darstellung Europas bliebe vergeblich eingesetzt, würden sich die Europäer nicht als Europäer empfinden.
1. Die europäische Identität
    Mit der Frage nach der Identität ist das elementare Konstruktionsprinzip moderner Gesellschaften thematisiert. 3 Die Vormoderne hat durch Milieu, geschlossene Weltbilder und Transzendenzbezug eine kollektive Identität
vorgegeben. Um existenzfähig zu sein, muss die moderne Gesellschaft diese kollektive Identität selbst entwerfen. Die Regelung der Konflikte und die daraus resultierenden steuernden Eingriffe der Politik sind oft nicht aus sich selbst heraus begründbar. Sie bedürfen vielmehr des Verweises auf gemeinsame Lebens- und Gestaltungsgrundlagen: Das Gemeinschaftsbewusstsein wird damit zum Fundament politischer Problemlösung.
    Mit der Auflösung vorgefundener Interpretationsordnungen für die Lebenswelt wird der Bedarf an Orientierung, an allgemeinen Umweltbeschreibungen, an gemeinsamen Zuordnungen besonders groß – als Ordnungsrahmen für die eingehenden Informationen, als Instrument zur Lokalisierung sozialer Objekte. Identitätsdefekte führen entsprechend zu pathologischen Gefährdungen – individuell und kollektiv. Identität und Orientierung sind also zwei Seiten derselben Medaille. Das Zeitalter der Moderne stellt besonders hohe Anforderungen an diese Orientierungsleistung. Mit dem hohen Maß an Mobilität, Pluralität und Differenzierung sind auch Identifikationsmöglichkeiten zerbrochen. Die Wissenssoziologie spricht recht anschaulich vom Leiden des modernen Menschen an einem sich dauernd vertiefenden Zustand der Heimatlosigkeit.
    Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, ist eine präzise Verortung der Schichten europäischer Identität notwendig. Rufen wir uns dazu einen grundsätzlichen Sachverhalt in Erinnerung: Jede Person erfährt ihre Umgebung als eine intersubjektive Welt, die sie mit anderen teilt und deren Gefüge sie mit anderen zusammen interpretiert. Die Identität eines jeden ist geprägt von einer Fülle solcher Intersubjektivitäten, von einer Fülle solcher Gemeinschaftserfahrungen. Diese Formen von Gemeinschaftsbewusstsein stehen mehr oder weniger eng verbunden nebeneinander, als Varianten relativierter und sich wechselseitig relativierender Schichten von Identität. Jede Form von Identität kennt drei unterschiedliche Komponenten, die logischerweise auch die Frage nach Europa konstituieren:
    Europäische Identität ist zunächst nichts anderes als die Herkunftseinheit Europas aus der gemeinsamen Geschichte: Herkunftsbewusstsein als konstituierendes Element von Identität. Die europäische Gegenwartskultur ist eine vom historischen Bewusstsein geprägte Kultur. Die markante Zuwendung der Europäer zu ihrer Geschichte in den letzten Jahren signalisiert zugleich die Dramatik des heutigen Wandels, der im historischen Bewusstsein den Vertrautheitsschwund mit der Gegenwart kompensieren möchte. Dabei wird eine wesentliche Erfahrung vermittelt: In den Krisen Europas ging es nicht nur um die Durchsetzung neuer Lebens- und Denkformen, neuer Produktions- und Staatsordnungen, sondern auch um deren Gelingen in der Kontinuität der europäischen Identität.

    Europäische Identität konstituiert sich auch aus der Erfahrung der Gegenwart. Die Spaltung Europas und ihre Überwindung sind ebenso relevant wie das Ringen um die Einbindung West- und Osteuropas in ein gemeinsames Integrationssystem. Die Menschen ordnen die Welt, in der sie leben. Sie verbinden isolierte Fakten und konstruieren so ihre soziale Umwelt. Soziale und politische Ortsbestimmungen in der Gegenwart stiften Identität.
    Die Menschen antizipieren künftiges Handeln und beziehen so Zukunft in die Gegenwart ein. Die Projektion der Absichten und Ziele wird zur Entscheidungshilfe und zum Auswahlkriterium für die Gegenwart.

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