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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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Zukunftserwartungen prägen die Identität Europas. Gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Hoffnungen – und dann nur unterschiedliche Antworten? Lernziel Europa heißt also nichts anderes als die lange versäumte oder zumindest vernachlässigte Einübung europäischen Denkens.
    Auf Europa angewendet bedeutet dies, der Frage nachzugehen, inwieweit es Elemente eines gemeinsamen Herkunftsbewusstseins, einer gegenwärtigen Ortsbestimmung und gemeinsamer Zielprojektionen der Europäer gibt.
1.1 Herkunftsbewusstsein
    Von der Stunde ihrer ersten Bezeichnung bis zum heutigen Tage sind Begriff und Bild von Europa keine selbstverständlich vorgegebenen Größen. Pauschale Erklärungen wie die »Einheit in der Vielfalt« wurden immer wieder herangezogen, um über Widersprüche und Unsicherheiten hinwegzuhelfen. Doch Europa entzieht sich solch einfachen Definitionsversuchen. Zu kompliziert und zu widersprüchlich sind die historischen Entwicklungslinien, zu vielfältig die politischen und kulturellen Faktoren, als dass sie sich auf einfache plakative Formeln verkürzen ließen. 4
    Auf der Suche nach den Wurzeln des Europa-Begriffes und des Europa-Bildes stößt man auf zwei grundlegende geistesgeschichtliche Probleme, die Europa von der Stunde seiner ersten Erwähnung im sechsten vorchristlichen Jahrhundert bis heute begleiten, sein kulturelles Unterfutter prägen und auch die aktuellen Schwierigkeiten mit der Idee »Europa« kennzeichnen. Das ist zum einen die Unsicherheit des Raumbildes von Europa und zum anderen die normative Begründung Europas. Europa zeigt Risse, sobald sich die normativen Grundlagen verändern – damals wie heute.
    Durch alle Epochen hindurch markiert der Begriff Europa zugleich eine geographische und eine normative Größe. Bereits die Griechen grenzen Europa als ihr Festland geographisch wie normativ gegen das Land der Barbaren
draußen ab. Zug um Zug schieben sie die Grenze weiter hinaus: Erkundungsfahrten und Eroberungen verlegen diese nach Norden; nach Westen reicht sie schließlich bis zu den Säulen des Herkules; nach Osten verwischt sie sich in den Landstrichen zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Schon hier scheint Europa in drei Vorfelder eingebettet zu sein: ein eurasisches, ein atlantisches und ein mittelmeer-afrikanisches. In welcher Weise diese Vorfelder Anteil an der europäischen Geschichte haben, bleibt über die Epochen hinweg ein Problem.
    Auch Europas geistige Abgrenzungen wandern, ausgehend nicht von Imperien, sondern von den vielen Städten und Regionen: Athen, Korinth, Kreta, Rhodos und schließlich Rom. Neben dieser ungewöhnlichen Vielfalt auf kleinstem Raum liegt die Wurzel der Eigentümlichkeit europäischer Kultur in der frühen Befreiung aus der Befangenheit im magischen Denken und im Zuge rationaler Lebensbewältigung. Die Griechen der Antike beginnen mit der Entzauberung der Welt, wissenschaftliches Denken, der Drang nach neuer, systematisch begründeter Erkenntnis gewinnt die Oberhand über den Mythos. Die Römer übersetzen diesen Grundzug europäischen Denkens ins Praktische, in Institutionen und Ämter, Armee und Rechtsordnung, Steuersystem und Geldwirtschaft. Ihr Sinn für die Zweckmäßigkeit und das praktisch Mögliche prägt die Spuren, die sie hinterlassen: Straßen, Brücken, Aquädukte und Marktplätze.
    Im vierten Jahrhundert wird das Lateinische Liturgiesprache, und Europa konstituiert sich als lateinische Christenheit. Die theologische Integration wird zur Grundlage Europas; ihr geistiges Band basiert auf der Vorstellung einer sich zu Christus bekennenden Völkergemeinschaft, die pluralistische Elemente integriert. Dieses Bewusstsein der Zusammengehörigkeit dokumentiert sich in der Folgezeit in der Zentrierung des geistig-kirchlichen Lebens um die Römische Kirche, in den dynastisch-aristokratischen Verbindungen, in den staatenbündischen Konzepten, in der Gründung von Universitäten und dem europaweiten Austausch in den Wissenschaften. Kunst, Dichtung, Wissenschaft und Weltanschauung lassen sich zu keinem Zeitpunkt regional begrenzen.
    Im Unterschied zum Hinduismus und Buddhismus sieht das Christentum in Offenbarung und Erlösung geschichtliche Ereignisse, welche die Welt und jeden Einzelnen wandeln. Das Gewissen ist das Zentrum der transzendenzorientierten Person, die an ihrem eigenen Heil beteiligt ist. Der Impetus eines solchen Glaubens ist ein Eckpfeiler, auf dem Europas Selbstbewusstsein ruht. Die Aufforderung des Benedikt von Nursia »Ora et

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