Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
labora« wird – auch außerhalb ihres unmittelbaren monastischen Bezugsrahmens – zur symbolhaften Verdichtung europäischer Lebensweise: Nicht die welt –
abgewandte Kontemplation, nicht die Selbstauflösung im Nirwana, nicht der Fatalismus längst vorbestimmter Naturzwänge werden zum Signum Europas, sondern sinnorientiertes, sinnvolles Handeln. Das Wertgefüge des Menschen ist davon geprägt, dass er im gläubigen Tätigwerden am Heilsgeschehen teilnimmt – eine Vielzahl sozialer Motivationen wird davon im Laufe der Geschichte Europas begründet, und immense politische Energien werden dadurch freigesetzt.
Zwangsläufig wird Europa auch Schauplatz der großen Auseinandersetzungen der Geistesgeschichte: seit der Rezeption des Aristoteles für die Spannung zwischen griechischer und römischer Klassik, dann für die Spannung zwischen Kirche und Staat. Die Art, wie diese Auseinandersetzungen ausgetragen werden, illustriert einen zentralen Charakterzug der europäischen Identität: Intensiver und freier als in anderen Kulturen treten die konkurrierenden Ideen in einen Dialog miteinander, sie wandeln und erneuern sich in der intellektuellen Auseinandersetzung. In diesem »Dialog innerhalb der Vielfalt, der letztlich den Wandel bewirkt«, liegt der »Genius Europas«. 5
Herausforderungen von außen werden bedeutsam für die Abgrenzung und das Selbstbewusstsein Europas: die Distanz zwischen Rom und Byzanz, die Türkengefahr und der Einbruch des Islam, der bis in die frühe Neuzeit zum eigentlichen Gegenspieler Europas wird. Er trennt nicht zwischen Glaube und Gesetz, lässt keinen Raum für die säkulare Rationalität, die Autonomie gegenüber der religiösen Sphäre.
Der Werdegang Europas wird dann elementar von der Spaltung der Christenheit in einen römisch-katholischen und einen protestantischen Teil beeinflusst. Konfessionelle Spaltung, Augsburger Religionsfriede, Drei-ßigjähriger Krieg, Westfälischer Friede – geistige und politische Konflikte sind in der Geschichte Europas untrennbar miteinander verwoben.
In Humanismus und Renaissance werden Bibel und kirchliche Tradition als alleinige geistige Autoritäten entthront. Machiavelli wagt es, die Politik ohne normative Grundlage zu denken, Leonardo da Vinci seziert den menschlichen Körper, Kopernikus rückt die Erde aus dem Zentrum des Universums. Die Entdeckung der Welt und des Menschen sind die Quintessenz dieser Zeit. Kriege und Allianzen, Erwerb und Verlust von Territorien werden zu dominierenden Geschichtsdaten. Dynastien streben nach Hegemonie. Wer solche hegemonialen Pläne zu Fall bringt, gilt als großer Europäer: Der Erhalt der politischen und territorialen Vielfalt bleibt Grundlage der Gestalt Europas. In der Aufklärung gerät dieses Europabewusstsein in die unentschiedene Mittelposition zwischen national begrenztem Interesse und universalistisch orientierter Haltung. Diese Spannung zwischen nationaler
Besonderheit, europäischer Gemeinsamkeit und weltweiter Orientierung bleibt bis zur Gegenwart erhalten.
Im 18. und 19. Jahrhundert baut sich Europa eine einmalige Vorrangstellung in der Welt auf. Es ist die Zeit der kolonialen Imperien der europäischen Führungsmächte: Sie erobern sich Rohstofflieferanten und Absatzmärkte und erweitern zugleich ihren kulturellen Einfluss. Die europäischen Völker versuchen, ihr Bild von sich selbst im Kolonialismus zu universalisieren. Vermehrter internationaler Warenaustausch, die Verbesserung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln sowie die Entstehung der Massenproduktion von Waren signalisieren die ökonomische Modernisierung. Hand in Hand mit ihr geht die politische Modernisierung, die in dem vielfältig territorial zersplitterten Europa die Nationalstaaten als dominierende politische Organisationsform entstehen lässt. Die Entwicklung von Nationalkulturen und Nationalstaaten, welche die moderne europäische Geschichte prägt, ist als durchgehendes Formprinzip nur in Europa zu beobachten. Gleichwohl verläuft diese Verbindung von Territorium, politischem Ordnungssystem und Kultur nicht in ganz Europa nach einem einheitlichen Muster. Es sind »Zeitzonen« 6 , in denen sich die Nationenbildung in Europa vollzieht: Während im Westen, namentlich in Frankreich, Spanien und England, Gebiet und staatliche Organisation schon früh eine Einheit bilden und der kulturelle Zusammenhalt erst hergestellt werden muss, verläuft die Entwicklungslinie in der Mitte Europas, in Deutschland und Italien, anders: Erst
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