Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
kulturell und ethnisch in kleine Räume parzelliert und doch der größte einheitliche Markt der Weltwirtschaft. Dabei hat die europäische Integration manches nicht erreicht und womöglich auch nicht erreichen können. Die Überwindung des Entwicklungsgefälles ist insgesamt nicht gelungen, die Umverteilung hat Wachstumschancen eröffnet, eine Nivellierung dagegen ist ausgeblieben. Wahrscheinlich fiele diese Bilanz ohne die Erweiterungsdynamik des Integrationsprozesses anders aus. Im Rückblick erscheint diese Schwäche deutlich weniger gravierend: Ein Mehr an Entwicklung wäre wohl nur durch erhebliche Autonomieverluste der nationalen und regionalen Akteure zu erreichen gewesen.
Es ist auch nicht gelungen, die schärfsten innergesellschaftlichen bzw. innerstaatlichen Konflikte in einigen der Mitgliedstaaten über die Mitwirkung in der Integration zu lösen: Autonomiebestrebungen im Baskenland und auf Korsika führen noch immer zu Gewalt, und der Frieden in Nordirland steht erst am Anfang einer konstruktiven Verarbeitung der Gegensätze. Dennoch sind positive Effekte der Integration nicht zu verkennen: Hoffnungen auf eine wachsende Regionalisierung haben das Autonomiestreben der Katalanen bis jetzt gemäßigt; aus dem gleichen Grund findet sich die größte Zahl der Europabefürworter im Vereinigten Königreich in Schottland. Die gleichzeitige Mitgliedschaft Großbritanniens und Irlands in der EG, die Anerkennung der irischen Gleichrangigkeit im Rahmen
der Integration wie auch das irische Wirtschaftswunder der 1990er Jahre könnten mehr zur Überwindung der anglo-irischen Konflikte auch im Norden der Insel beigetragen haben, als allgemein angenommen wird. Manche Regionalisten mögen zu sehr auf eine schleichende Entmachtung der jeweiligen Zentralregierung gesetzt haben – die Einbettung der Zentralen in einen größeren politischen Handlungsrahmen hat jedoch die Entwicklung subnationaler Ebenen zumindest begünstigt, und der wirtschaftliche Nutzen der Integration dürfte einige der sozioökonomischen Ursachen von Regional- und Minderheitenkonflikten entschärft haben. Diese Grenzen der Friedensleistung von Integration bleiben auch für die Zukunft relevant: Ethnopolitische Konflikte in Mittel- und Osteuropa müssen vor dem Beitritt zur EU geregelt werden, innerhalb der EU lassen sich ihre Folgen nurmehr mildern.
Durch die Gemeinschaftsbildung hat das integrierte Europa ein Maß an innerem Frieden erreicht, das seinerseits zum Instrument der Befriedung wurde. Die Aufnahme der jungen Demokratien Spaniens, Portugals und Griechenlands gilt als Beispiel derartiger Friedensprojektion; die Mitgliedschaft in der EG hat nicht nur das demokratische politische System stabilisiert und die politische Kultur dieser Staaten modernisiert; die Wohlstandsgewinne aus dem Beitritt haben zugleich auch die Output- Legitimation der neuen Ordnung gestärkt. Mit der Projektion der Integration nach Mittel-und Osteuropa verbinden sich dieselben Erwartungen; zugleich sind, wie im Rahmen der Bilanz bereits angerissen, mit diesem Prozess Veränderungen in Politik und Struktur der Integration verbunden, die das bisherige Friedens-system der Integration auf eine qualitativ neue Probe stellen. Eine Neudefinition der Verteilungsschlüssel, eine Reform der Stimmgewichtung zur Wiederherstellung der Machtbalance, eine Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen, eine Straffung der Führungsstruktur der EU oder die Differenzierung der Integration als Entwicklungsmethode – jede dieser Reformoptionen greift in die bisherigen Sicherungsmechanismen der europäischen Konfliktkultur ein.
Ein anderes Europa agiert heute in einer anderen Welt, in der das Ende des großen Systemkonfliktes den Europäern nicht nur mehr Sicherheit und Einheit erlaubt, sondern neue Risiken und neue Handlungsfelder mit sich gebracht hat. Die politisch-strategische Nische, in der sich die Integration im Windschatten der Nachkriegsallianzen entwickeln konnte, existiert nicht mehr, und die Welt nach dem Ost-West-Konflikt ist, was viele bedauern mögen, kein Spielplatz für Zivilmächte; ihre Gefahren sind nicht einmal allein mit den zweifellos gewichtigen Instrumenten des »Handelsstaates« beherrschbar. Die Risiken der Lage Europas und die Folgen der neuen Ordnung
Europas für die Binnenebene europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik stellen die alte Frage nach der sicherheitspolitischen Identität der Europäer neu. Die Europäische Union liegt in unruhiger Nachbarschaft
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