Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
– sie grenzt an zwei der hoch sensiblen Zonen der Weltpolitik. Nach Osten reicht sie schon heute an den von Russland dominierten Raum heran, dessen Entwicklungspfad auf viele Jahre nicht mit dem seiner westlichen Nachbarn übereinstimmen wird. Mit der Vollendung der Integration durch die Erweiterung wird diese EU von der Barentssee im hohen Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden ohne Puffer oder neutrale Zonen an diesen Raum grenzen, und alle grenzüberschreitenden Aktivitäten, Konflikte und Entwicklungsunterschiede werden als Friedensrisiken zu Themen der Europapolitik werden.
Im Süden spricht vieles für eine weitere Verdichtung der politisch-sozialen Krise im nordafrikanischen Raum, da die Konfliktspirale aus Bevölkerungswachstum, Landflucht und Verstädterung, Erosion der schmalen fruchtbaren Küstenstreifen und einer verfehlten Industrialisierungspolitik von den meisten Staaten nicht umgedreht, sondern bestenfalls in ihren Auswirkungen begrenzt werden kann. Die offene bzw. schleichende Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung (die Hälfte der Nordafrikaner ist jünger als 20 Jahre, und viele von ihnen besitzen keine klare Zukunftsperspektive) wirkt vor allem zugunsten eines islamischen Fundamentalismus, zu dessen Programmatik die bewusste Abkehr vom Westen, seinen Normen und Systemen gehört. Instabilität kennzeichnet auch das östliche Mittelmeer, die Türkei und, nicht zuletzt, den Nahen Osten. Eine Strategie der Abschottung scheidet für Europa aus – zu vielfältig sind die Bezüge und Wechselbeziehungen, zu lang und zu offen sind die geographischen Grenzräume der Europäischen Union nach Süden und nach Osten.
Der Krieg um Bosnien-Herzegowina hat schließlich auch die Annahme widerlegt, Konflikte seien durch die Isolierung und Erschöpfung der Kriegsparteien regelbar: Die wirtschaftlichen und demographischen Externalitäten für Europa und die anhaltende Vergiftung der politischen Kultur sind angesichts der Nähe der Konfliktregion und der Dichte der Verflechtung europapolitisch nicht zu neutralisieren. Die Defizite im Wiederaufbau in Bosnien, in der Reintegration der Flüchtlinge sowie die Schwächen in der demokratischen Transformation in Bosnien, in Serbien wie in Kroatien belegen die Notwendigkeit präventiver Schritte, militärischer Abschreckung und, im Krisenfall, der Durchsetzung des Friedens. Die Schwierigkeiten und Dilemmata der militärischen Durchsetzung des Rambouillet-Abkommens durch die NATO weisen darauf hin, dass eine Politik und eine Struktur für diese Herausforderung europäischer Politik noch nicht gefunden ist.
Die Europäer müssen also handeln, wenn sie die zweite Friedensepoche nach dem »kalten Frieden« des Ost-West-Konfliktes nach ihren Maßstäben gestalten wollen. Die Schritte der NATO-Erweiterung und Reform sind dazu erst ein Anfang. Ihm folgt die Zusammenführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Verteidigungspolitik unter dem Dach der EU. Sicherheits- und Verteidigungsleistungen in der EU zu bündeln, ist zwar zu dem größten Projekt der Integrationsvertiefung geworden, doch wird seine Verwirklichung nicht dem klassischen Muster der EU-Entwicklung folgen. Nicht die EU als solche – dies sieht nicht einmal die ambitionierte Europäische Verfassung so vor – wird wohl zum Träger weltpolitischer Handlungsfähigkeit der Europäer werden, sondern eher eine Gruppe von EU-Staaten unter Bezugnahme auf die politischen Werte und Ziele der EU. Krieg als Mittel der Politik ist zurückgekehrt nach Europa. Der neue Terrorismus hält diese Feststellung aufrecht, so erfolgreich die Europäer auf dem Balkan auch werden mögen. Amerika handelt nach der Logik und den Bewegungsmustern seiner eigenen Politik und stellt Europa vor die Entscheidung – in Afghanistan wie im Krieg gegen den Irak. Dem Unbehagen in Europa über präemptive Militärschläge oder Domino-Theorien für den Mittleren Osten fehlt die politisch-strategische Konsequenz. Positiven Frieden, wie er im System der Europäischen Integration über Jahrzehnte erprobt und schrittweise institutionalisert worden ist, für Gesamteuropa zu erlangen und zugleich die Werte und Integrität des europäischen Gemeinwesens nach innen wie außen zu sichern wird zur Aufgabe der kommende Jahrzehnte.
Anmerkungen
1 Vgl. Mearsheimer, John J.: Back to the Future. Instability in Europe after the Cold War, in: International Security 1 (1990), S. 5 – 56.
2 Senghaas, Dieter (Hrsg.): Frieden machen,
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