Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Vereinigten Staaten zu groß geworden war, sodass eine nahtlose militärische Aktionseinheit faktisch kaum möglich und eine partnerschaftliche Führung gemeinsamer Operationen politisch kaum durchsetzbar war. Selbst die militärisch aktiven Staaten wie Großbritannien und Frankreich konnten diese Lücke aus eigenen Mitteln nicht schließen. Mit den Gipfeln von Köln im Juni 1999 und Helsinki im Dezember 1999 wurde ein Prozess ausgelöst, der die EU mit der Fähigkeit zur militärischen Krisenreaktion, wenn nötig auch ohne Rückgriff auf die Fähigkeiten der NATO, ausstatten soll. Bis zum Jahr 2003 wurde eine
Einsatztruppe von 60 000 Soldaten bereitgestellt; zugleich wurde die Entwicklung entsprechender Aufklärungs-, Verlegungs-, Kommunikations-und Führungsstrukturen beschlossen worden. 32
Mit der Umsetzung dieser Entscheidungen waren weitere politisch herausfordernde Weichenstellungen verbunden, da die nachhaltige Verfügbarkeit einer Eingreiftruppe etwa die dreifache Menge ihrer nominellen Stärke von 60 000 Soldaten erfordert und auch die Ausrüstung nur zu einem Teil aus dem bisher verfügbaren Material erfolgen kann. Neben der militärischen wie der rüstungstechnologischen Seite erfordern die Beschlüsse von Helsinki bis zu den jüngsten Vertragsänderungen in Nizza die Entwicklung einer permanenten sicherheits- und verteidigungspolitischen Lagebewertung entsprechender Beratungs- und Entscheidungsgremien. Die bisher im Entstehen befindlichen Strukturen um den Hohen Repräsentanten gehen zwar deutlich über das frühere Maß hinaus und beziehen erstmals auch militärische Expertise direkt mit ein, doch bleibt dem Hohen Repräsentanten bisher das Entscheidungsgewicht des Generalsekretärs der NATO vorenthalten. 33 , 34
Schwer tut sich die europäische Politik auch mit der Nutzung der verstärkten Zusammenarbeit in diesem Feld – Koalitionen handlungswilliger Staaten können seit den Vertragsänderungen von Nizza zwar in der Außen-und Sicherheitspolitik vorangehen, nicht aber im Bereich der Verteidigung. Diese Hürde wiegt umso schwerer, als bereits jetzt abzusehen ist, dass manche der EU- und WEU-Mitglieder dieser Zuwachs an Verantwortung und Macht überfordern wird. Die große EU wird vielleicht doch einen Verteidigungskern benötigen, in den diejenigen Staaten, die dazu bereit und in der Lage sind, dann nicht nur ihre Ressourcen der Krisenreaktion einbringen können, sondern in dem sie den Gesamtbereich ihrer Verteidigungsanstrengungen zusammenführen. Die geringste Effizienz und das höchste Maß an Duplizierung weist die Territorialverteidigung der Europäer auf – eine Folge des Auseinanderfallens von neuer Sicherheitslage und alten Sicherheitsstrukturen.
8. Europa: Der unvollendete Frieden
Die Betrachtung der europäischen Integration nach Kriterien, die für die Friedensfähigkeit von Gesellschaften oder Zivilisationsräumen entwickelt worden sind, hat ein komplexes System erkennbar werden lassen, in dem Frieden nicht nur in einem negativen Sinne die Abwesenheit des Krieges meint, sondern in dem »positiver Frieden« möglich geworden ist. Das
politische System der europäischen Integration hat nicht nur einen stetigen Prozess des Interessenausgleichs etabliert, sondern – zumindest in ihrem Kern – auch die Konvergenz der Interessenlagen selbst befördert: Die Entwicklung zur Währungsunion veranschaulicht diesen Prozess in exemplarischer Weise. Integration hat die wechselseitige Abhängigkeit nicht nur intensiviert, sondern die Interdependenz in fast schicksalhafter Dichte organisiert – eine Leistung, die sonst nur mit der Entwicklung kollektiver Verteidigung im Rahmen der NATO – und dort wohl nur aufgrund der nuklearen Vernichtungsdrohung des Kalten Krieges – zu vergleichen wäre. Integration hat schließlich nicht nur Völker in einem System verbunden, die noch vor drei Generationen in der Geschichte der großen Kriege Europas standen, sondern sie hat die Grenzen zwischen ihnen, vor allem unter den Gründungsmitgliedern, auch physisch verschwinden lassen.
Gleichzeitig sind jedoch die Eigenarten der politischen Kultur und die Eigentümlichkeiten der nationalen und regionalen Identität erhalten geblieben, vielleicht sogar nicht einmal »trotz Europa«, sondern wegen der Integration. Am Ende des 20. Jahrhunderts erlaubt die Integration der historisch gewachsenen Staatenwelt des kleinen Kontinentes, in einer internationalisierten und interdependenten Welt zu bestehen – politisch,
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