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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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Verteidigung Europas von der Sicherheit der Vereinigten Staaten.
7.4 Die Rückkehr des Krieges nach Europa
    Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat die Sicherheitslage Europas zugleich erleichtert und beschwert. Die Gefahr eines großen nuklearen Schlagabtausches ist weitestgehend entfallen, Zielplanung und Bereitschaftsstatus der Interkontinentalraketen wurden den neuen politischen Verhältnissen angepasst. Zugleich haben sich die Kräfteverhältnisse im konventionellen Bereich deutlich zugunsten der NATO verschoben. Im Vergleich zur Lage 1988, als die Überlegenheit des Warschauer Pakts je nach Kategorie den Experten eindeutig erschien, hat sich die Relation zwischen der NATO und Russland 1997 umgekehrt: So blieben von den 51 800 Kampfpanzern des Warschauer Paktes 1997 noch 5 541, von 7 700 Kampfflugzeugen im Jahre 1988 sank die Zahl auf 2891. 29 Ein zentrales Sicherheitsproblem und gravierendes Risiko für den Frieden bleibt jedoch die Kontrolle und Beseitigung der militärischen Hinterlassenschaften des Konfliktes in Osteuropa sowie die Verhinderung der Weiterverbreitung von ABC-Waffen und ihrer Technologie. Gleichzeitig sind neue Konflikte zu konventionellen Kriegen eskaliert. Drei Krisenzonen schaffen auch künftig Unsicherheit: der Balkan, Transkaukasien und der Mittelmeerraum. Den Frieden für Europa zu wahren ist zu einer dringenden und zugleich komplizierteren Aufgabe geworden. Parallel dazu stellt sich das Problem des Umbaus der Institutionen – zerfällt mit der Bedrohung auch die integrierte Verteidigung im Westen?
    Nach 1989, insbesondere mit Beginn der gewaltsamen Auflösung der früheren Bundesrepublik Jugoslawien, wurde deutlich, dass das System des Friedens durch Abschreckung und Entspannung für die Bewältigung der neuen Risiken weitgehend ungeeignet war. Die Kriegs- und Krisenkonzepte der alten Ordnung passten nicht auf die mit »geringer Intensität«, was ihre kontinentale oder internationale Dimension anbetraf, aber dafür mit Ausbrüchen archaischer Gewalt ausgetragenen Bürgerkriege, Emanzipationsbestrebungen und ethnischen Konflikte in Südosteuropa und im Raum der ehemaligen Sowjetunion. Was in den 1980er Jahren für die Krisenbewältigung der NATO als » out of area« galt – Nordafrika, der Nahe
Osten, Mittel- und Südamerika sowie Asien und Afrika -, lag nun im erweiterten strategischen Raum des Westens, nachdem die Sowjetunion sich auf ihr eigenes Territorium zurückgezogen hatte. Die Fähigkeit, Frieden auf dem europäischen Kontinent zu bewahren und auch gegen Aggressoren wieder herzustellen, ist seit 1989 zum Maßstab der gesamteuropäischen Ordnungsrolle der westlichen Integrationsorganisationen und damit zum Testfall ihrer Legitimität geworden. 30
    Die Beendigung des Krieges um Slowenien, dann um Kroatien, um Bosnien-Herzegowina und – schließlich – um den Kosovo wurde nicht zur »Stunde Europas«, wie der luxemburgische Außenminister Jacques Poos anfangs vorlaut bemerkt hatte: Die Interessen des Westens, darunter die der großen europäischen Staaten, stimmten nicht überein, ihre Fähigkeiten reichten nicht aus, und Konsens bestand vielleicht nur in der Schwächung der gemeinsamen Institutionen. Wenn der zweite Golfkrieg die amerikanische Vorstellung von der Durchsetzbarkeit einer neuen Weltordnung erschüttert hatte, so stellte der Verlauf der Jugoslawienkriege klar, dass Europa nicht imstande war, seine Friedensinteressen aus eigenen Mitteln politisch und deshalb auch militärisch selbst in seiner näheren Umgebung allein durchzusetzen . 31
    Bei aller Ernüchterung über die anfängliche Unzulänglichkeit der europäischen Krisenpolitik belegen die neuen Konflikte der letzten Jahre die gewachsene internationale Verantwortung der EU-Staaten. Die humanitären und ethnischen Tragödien in Bosnien und dem Kosovo lehren, dass die Wahrnehmung von Verantwortung nicht ohne Einfluss und ohne die Ausübung von Macht Erfolg haben kann. Auf dem Balkan hat sich für die Europäer erwiesen, dass die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit ihres stärksten Instrumentes – dem Angebot wirtschaftlicher Verflechtung – unter der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit gelitten hat, Grundwerte und wesentliche Interessen durchsetzen zu können. Den »carrots« europäischer Integrationspolitik fehlten die »sticks« militärischer Fähigkeiten. Zugleich haben die militärischen Konflikte der 1990er Jahre den Europäern demonstriert, dass ihr militärtechnologischer Rückstand auf die

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