Europe Central
Pessimismus von der Parteilinie abweicht). Das Eröffnungsmotiv hält jedem Vergleich mit dem Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter stand, aber wo das Drängende der deutschen Melodie von der herbstlichen Milde des Komponisten gemäßigt wird, kommt uns Schostakowitschs Version wie ein strenger russischer Winter entgegen. Die Äpfel sind von den Bäumen gefallen, der Schnee ist da, und das Schicksal hält nichts mehr als Unheil für uns bereit. Der tiefe brummende Klang des allerersten
Akkords beschwört eine Gemeinschaft herauf, die nur vom Schlaf zusammengehalten wird. Vor den mit Eisblumen bedeckten Fenstern Leningrads ballt sich der Frevel. Dieser Frevel setzt sich in Marsch; und die 8. Sinfonie, die alle Zeit verdichtet wie die Wände einer Todeszelle, beschleunigt seine Ankunft.
40 Mir selbst erscheint in den Nächten vor unglücklichen Jahrestagen in meinen Träumen manchmal mein Tod, wie er sich als großer Schatten über mich beugt und mich in einem sanften Bariton mahnt, aufzustehen und mich bereit zu machen, denn es sei Zeit, mein warmes Bett für immer zu verlassen. Aber es ist noch Nacht und so kalt draußen; ich möchte nicht in diesen Traum hinein aufwachen! Und wer ist der Schatten? Der Tod kann es eigentlich nicht sein; ich kann ja unmöglich sterben! Russland seinerseits konnte die Gestalt, die es bedrohte, nicht einmal in Umrissen ausmachen, des Paktes mit den Nazis wegen, den der Genosse Stalin 1939 so klug unterzeichnet hatte. Wir konnten Hitler nicht länger als Faschist bloßstellen. Wir hatten uns mit ihm gegen den imperialistischen britisch-französischen Block verbündet. [ 21 ] Als Deutschland Westpolen schluckte, hielt die Sowjetunion die Fahne des unterdrückten Proletariats hoch und überrannte den Osten. Nun trennten uns nur noch Flüsse und Stacheldraht voneinander. Die Diplomaten nannten diese zweckmäßige Aufteilung Ribbentrop-Molotow-Linie, und ihre Militärkarten waren zur Linken schwarz vor Hakenkreuzen und Pfeilen, zur Rechten blutrot vor Sternen und Pfeilen. Jeder General, der vor militärischen Vorbereitungen auf der deutschen Seite warnte, vor der immer stärkeren Massierung von Panzern und Flugzeugen, brachte sich in Lebensgefahr.
In Berlin legte jener andere Komponist, Adolf Hitler, letzte Hand an die Partitur seiner 13. Sinfonie:.
42 Römische Zahlen, eine Fahne mit Stundenglas, Fahnen mit Schachbrettmuster, Zahlen in Kreisen und Halbkreisen, alle hoben sie sich schwarz von einer hellgrauen Karte Westrusslands ab.
Sein Generalstab schichtete sich auf, ein Stabssklave über dem anderen, parallel ausgerichtet auf dem Notenblatt. Seine Partitur kannte kein Ende. Schostakowitsch konnte, so heißt es, an einem Tag zwanzig bis dreißig Seiten schreiben, wenn er sich ganz auf eine Sinfonie geworfen hatte, und die Heeresgruppe Nord würde über das hellgraue Flachland auf dem Weg nach Leningrad ähnlich rasch vorankommen. Die beiden anderen Heeresgruppen sollten sich als ebenso vorbildlich erweisen. Bevor ihre Sinfonie verklang, würden sie beinahe genauso viele hohe russische Offiziere getötet haben wie der Genosse Stalin.
Wie jeder Student auf dem Konservatorium weiß, besitzen die Notenlinien für höhere Stimmlagen das königliche Privileg, sich auf der Orchesterpartitur über ihre niedriger gestimmten Stammesbrüder zu erheben. In sowjetischen Straflagern folgt man der gleichen Regel: Diebe mit volltönenden Stimmen belegen die oberen, wärmeren Betten, während die sterbenden »Politischen«, fast schon zu schwach, noch Laut zu geben, sich auf den eiskalten Planken unter ihnen ausstrecken oder, wenn sie nur noch ein leises Brummen von sich geben, auf den schmutzigen gefrorenen Bohlen neben dem Pisspott. Und auch der deutsche Dirigent hielt diese Grundregel in Ehren. All seine überlebenden Generäle würden sich später an seine schrillen Beschimpfungen erinnern, die ohne Unterlass über sie hinweg sirrten. Er, ihr Schlafwandler, war die einzige Solostimme. Komponist, Dirigent und Mezzosopran in einem, schuf er die Musik seiner Träume.
Dass die Seiten einer Partitur nicht nur horizontal von den Notenlinien unterteilt werden, sondern auch vertikal von den Taktstrichen, die dafür sorgen, dass alle Stimmen im Takt bleiben, versteht sich von selbst. In der Sinfonie mit dem Titel »Barbarossa« wurden diese Taktstriche von einer Doppelreihe großer deutscher Henker gebildet, die Gewehre auf eine Reihe ziviler Geiseln gerichtet, die in gleichmäßigen Abständen vor einer
Weitere Kostenlose Bücher