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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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könnte seine Soldaten Epidemien aussetzen.)
    In dieser Todeszone verblieben als glorreiche Volksmiliz zweihunderttausend schlecht ausgerüstete Rotarmisten und dreihunderttausend kaum ausgebildete oder bewaffnete Zivilisten. Müde blasse Frauen schufteten mit hochgesteckten Haaren, stopften Sprengstoff in die Granathülsen, die wie riesige Metallflaschen aufgereiht vor ihnen standen. Andere Frauen taten in Moskau dasselbe. Alle waren bereit für die Zukunft, für den Tod.
    Der Genosse Schdanow berief die Aktivisten zu einer Besprechung ein und erklärte im üblichen melodramatischen Tonfall: Entweder wird die Arbeiterklasse Leningrads versklavt und in ihren besten Teilen ausgerottet, oder wir werden Leningrad zum Grab der Faschisten machen.
43
    Die Partei versprach, gegenüber Deserteuren keine Gnade walten zu lassen. Die Partei warnte, selbstsüchtiger Individualismus werde nicht geduldet. Das kannte Schostakowitsch alles schon.
    22
    Seine 7., die sogenannte »Leningrader« Sinfonie hatte er einigen Quellen zufolge schon vor dem Einmarsch begonnen. Im August 1939, als die Getreuen wissen wollten, warum seine mittelmäßige 6. Sinfonie, allen Versprechungen zum Trotz, Lenin kein Denkmal gesetzt habe, zuckte Schostakowitsch leicht zusammen, schob sich die Brille auf
der Nase zurecht, lächelte, so weit seine schlau versteckte Bosheit es zuließ, und verkündete mit unbewegter Miene, die Siebente werde endlich Programmmusik der klugen kriecherischen Art: Erster Satz – Lenins Jugend. Zweiter Satz – Lenin führt den Oktobersturm an … Eifrig wurden diese Worte in der Leningradskaja Prawda gedruckt, im Moskowskij Bolschewik und ähnlichen Organen unserer braven Sowjetpresse.
    Der Witz ging noch weiter. In ihrer letzten Ausgabe vor dem Angriff der Hitlerianer auf Russland behauptet die kapitalistische Publikation Current Biography, Schostakowitsch habe Anfang 1941 seine 7. Sinfonie vollendet, gewidmet dem Andenken Lenins.
44 Ich habe auch gelesen, mit der tatsächlichen Arbeit an der Komposition sei erst im Juli begonnen worden, als die Heeresgruppe Nord schon alle Bunker der Stalin-Linie überrannt hatte. (Die Faschisten kappen alle Leitungen!, schrie seine Kollegin Judina, aber als er wissen wollte, was für Leitungen und mit welchem Ergebnis, war sie sich nicht sicher; sie hatte es in einer Lautsprecherdurchsage gehört.) Jedoch hat ein gewisser Genosse Alexandrow mir versichert, vor August habe Schostakowitsch nichts zustande gebracht. – Je genauer man sich mit diesen verschiedenen Behauptungen befasst, desto seltsamer werden sie; ganz als würden sich die zahllosen Kanäle Leningrads in einer Sommernacht vereinen und zu einer Spirale ordnen! – Der nächsten Revision seiner Biografie zufolge hatte er Ende Juli erst den ersten Satz vollendet, den er provisorisch »Krieg« betitelte.
    Ist es wichtig, welche Version stimmt? Ja, sagen mir die Musikwissenschaftler. Was also meinen wir genau mit »schon begonnen«? Ich meinerseits gebe der Formulierung der traurigen und zornigen Fackelträgerin N. Mandelstam den Vorzug, gestützt auf das, was sie von ihrem Dichtergatten gelernt hatte, der den Märtyrertod gestorben war, und von dessen Muse, ihrer Rivalin A. Achmatowa: Der ganze Prozeß des Dichtens besteht aus einem angestrengten Einfangen und Zutagefördern von etwas bereits Vorhandenem, eines formal und inhaltlich harmonisch aufeinander abgestimmten Ganzen, dessen Ursprung unbekannt ist …
45 Nehmen wir einmal an, ihre Beschreibung lasse sich auf Musik ebenso anwenden wie auf die Dichtkunst. Wen hörte Schostakowitsch rufen? Eine gewisse Frau mit langem dunklen Haar fällt einem ein (was für ein Glück, dass du mich nicht geheiratet hast), aber ich sollte diese Phanta
sie, die einen Beleg für utopischen Individualismus der schlimmsten Sorte darstellt, lieber unterdrücken. Bei der Behauptung, er sei in jener Zeit von einem deutschen Granatsplitter verwundet worden, der sich in seinem Hirn einnistete und ihm herrliche Melodien eingab, sobald er den Kopf neigte, handelt es sich um eine ebenso schillernde Fälschung. – Warum ihm nicht zugestehen, dass es eine reine Gnade war, dass Harmonie und Sinn sich auf ihn senkten? Der Stift hastete über die Notenlinien und alles wurde lebendig. Hinter den Verdunklungsvorhängen brannte in Schostakowitschs Arbeitszimmer Nacht für Nacht die Kerze. Akkorde und Motive trällerten ihm zwischen den Ohren wie die Schattenrisse von Panzern, die sich zwischen die

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