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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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anzuschlagen; und dort war es, dass er zum allerletzten Mal in Elena Konstantinowskajas Armen schlief. Das war im Juli, so wurde mir berichtet; am feuchten weißen Morgen stand er auf und betrachtete das Spiel der Sonne und der Blätter; später behauptete Lebedinski beides in sei
ner 6. Sinfonie wiederzufinden; als er wieder ins Bett kam, war sie wach und fast schon angezogen. – Habe ich dir erzählt, Elena (wirklich sehr lustig), dass, dass Glikmann mich überreden wollte, eine Oper zu schreiben, na ja, eher eine Operette, über einen Rotarmisten und die Tochter eines Priesters in Spanien? Weil, Spanien ist, na ja, mit dem Bürgerkrieg und allem, eine Feuerprobe im weltweiten Ringen; Glikmann vermutet, dem Genossen Stalin könnte das, sozusagen, gefallen . Hast du »Salut, Spanien!« gesehen? Ich werde es mir nicht anschauen. Manchmal ist Glikmann richtig … Dann könnte ich »Lady Macbeth« hinter mir lassen. So sieht er das, und – Elena, Liebste, warum weinst du? – Ich gehe nach Spanien und komme nie mehr zurück, sagte sie. Und ich habe ein Herz an die Wand gemalt, hinter das Kopfteil des Bettes, wo sie nie nachsehen werden, und in das Herz habe ich unsere Initialen geschrieben. Ich will nicht, dass du nachsiehst. Und ich werde dich nicht mehr küssen, nie mehr.
    Im Herbst 1938, nicht lange vor dem ersten Schnee, verkündete er, seine nächste Sinfonie sei Lenin gewidmet. Dünn, ängstlich, bleich und mit messerscharfem Profil versprach er, auch Volkslieder aufzunehmen.
    Aber bei der Uraufführung ließ sich nicht der leiseste Bezug zu Lenin erkennen. Die Kritiker spotteten, das Finale dieser sechsten sogenannten Sinfonie sei nichts als die Wiedergabe eines Fußballspiels;
37 eine Demütigung, die er bis ans Ende seines Lebens nicht vergaß, aber wenigstens fühlte er sich nicht mit dem Tod bedroht. Aus irgendeinem Grund hatte der Terror vorübergehend nachgelassen. Und im Jahr 1941 verlieh man ihm für sein Klavierquintett in g-Moll (op. 57) sogar, verschiedenen anonymen Denunziationen zum Trotz, einen Stalinpreis erster Klasse.
    In den Zeitungen las er, das Produktionsvolumen in Leningrad liege inzwischen 12,3-mal höher als 1913. Er las, »Ai-Tschurek« (Herz des Mondes) des kirgisischen Komponisten A. Maldybajew gelte nun als »sowjetischer Klassiker«. Letztere Meldung erinnerte ihn an seine Schwester Marija, die noch immer in Zentralasien schmachtete.
    Er schlich sich mit seiner Familie, der sowjetischen Definition nach eine sozio-biologische Gemeinschaft von Menschen, bestimmt von Banden der Ehe oder Blutsverwandtschaft, die gemeinsam lebt und haushaltet , ins Dunkel.
38 Schweigend saßen Nina und er beieinander und lasen
das Rote Abendblatt. Für Glikmann, der all seine Briefe aufbewahrte und vor dem er vieles verbarg, war sein Verstummen geradezu göttergleich: Den großen Schostakowitsch konnte nichts aus der Ruhe bringen! Aber sie hielten die Vorhänge geschlossen. Nina rang bei jedem Klopfen an der Tür nach Luft. Er versuchte, keine Gefühle zu zeigen, aber seine Finger ließen sich nicht kontrollieren. Er stand auf und drückte Nina fest an sein angststarres Herz. Er tat, als küsse er sie, damit er ihr ins Ohr flüstern konnte: Das ist jetzt unser Leben … – Manchmal, tief in der Nacht, konnten sie aus der Peter-und Pauls-Festung gedämpfte Salven hören. Wer starb in den Verliesen? Galischa wachte auf und wollte sich verstecken; Nina hatte Angst, sie könnte unter den Kissen ersticken. Oh, was für eine Komödie wir leben! Ich halte Galja in meinen Armen und es geht mir besser; dann schäme ich mich dafür, dass es mir besser geht, weil sie allein aufwachsen wird. Nun, nun, ich liebe meine Tochter; diese Tatsache spricht gewiss für sich. Von den Rechtschaffenen und Klugen gemieden, wartete er auf das Klopfen um Mitternacht, gefolgt von der Fahrt ohne Wiederkehr im Gefangenenlaster. Elena hatte ihm erzählt, wie das ging. Der gefeierte »Schrecken« seiner 5. Sinfonie, die in S. Volkows Worten die Gefühle des Intellektuellen ausdrückte, der vergeblich versuchte, sich vor der bedrohlichen Außenwelt zu verstecken, war kein Zufall.
39 Und nun schickte ihm diese Außenwelt Bomben, Düsternis, Scheinwerferlicht und Panzer.
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    Obwohl es die Programmmusik der 7. Sinfonie war, die ihn berühmt machte, spiegelt sich der Krieg natürlich viel besser in den ersten drei Sätzen seiner ungleich gelungeneren 8. Sinfonie in c-Moll (ein krankhaftes Werk allerdings, weil es in seinem

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