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Petroleumlampen. Neue Feuer werden auflodern; der Sommer versengt schon die Ränder der Notenblätter. Alle sind sie nun nach Osten gezogen, alle, die so weit gekommen sind; der Rest ist tot oder versteckt sich. Schostakowitschs Sinfonie verdüstert sich zu kränklicher Erwartung und taucht den Teppich des Leids in Dämmerlicht: unverbrannte Erde, die bald mit Blut und Seufzern gesättigt sein wird. Ein fast unbeschriebenes Blatt liegt nun vor uns, eine Ebene aus niedergetretenem Gras, darauf verstreut die Kleider der Geflüchteten. In böser Raserei scheidet der letzte Rest dahin. Was dann? Stellen wir diese Frage D. D. Schostakowitsch, wird er betrunken erwidern: Wer Ohren hat, höre. So warten wir auf den Tod. Hörner künden: Da sind sie, sie kriechen über eine niedrige goldene Hügelkuppe, die Gewehre auf uns gerichtet. Nur fort, fort, fort! Sie können uns schon sehen! Fort, fort! Wir verstecken uns! Sie kommen. Wir flüchten. Sie kommen! Ganz plötzlich sind wir sie, und alles ist so fröhlich wie das Grinsen einer Leiche. [ 22 ] Wir Nazis rollen voran und schießen. (Aber wenn Sie wollen, dann nennen Sie es einen Slawischen Tanz; nennen Sie es Stalin in Friedenszei
ten, wie er millionenfach ukrainische Bauern mordet.) Ha ha ha ha ha! Sempre cresc. sin'al. Mit einem Tusch der Holzbläser brennen wir Witebsk bis zum letzten Haus nieder; Smolensk steht in Flammen wie zu Napoleons Zeiten; aus den Fenstern quillt Rauch im Farbton reinen Lichts. All ihre T-34 sind weggelaufen. Mit einem Tusch der Geigen jagen wir über das goldene Gras nach Osten. Wir überqueren die gleiche niedrige Hügelkuppe, die wir von der anderen Seite im Blick hatten, in jener grauen Vorzeit, als wir noch wir waren, und erspähen die Roten auf der Flucht in Richtung Horizont. Egal; die meisten werden unsere Tiefflieger erledigen. Wir stehen nun auf dem glatten flachen Grund der Partitur; mit großem Humptata tollen unsere Panzer auf diesem Tanzboden befriedigten Ehrgeizes herum, gleiten so leichtfüßig auf Moskau und Leningrad zu, als würden wir Schlittschuh laufen. Als die Russen am Ende doch noch ihre Truppen formieren, sind sie so schwach und durchscheinend wie Regenwölkchen an einem Himmel voller Geigen, pianissimo. Die sogenannte Stalin-Linie und die Luga-Linie kümmern uns nicht; durch beide kämpfen wir uns hindurch, ihre defensiven Trommelschläge bemerken wir kaum. Wir machen alles nieder, mit unseren Maschinengewehren, bis zum letzten Gespenst, das uns angreift. Und fröhlich wellen sich die Steppen der Ukraine. Ein verrückter alter Kosake kommt auf uns losgeritten, und wir schießen ihm den Kopf ab! Er schlingert; er ist eine Blutfontäne; er tanzt mit seinem Pferd einen lächerlich grausigen Walzer, bevor er stürzt. Jetzt kippt die Musik wieder, wie die Köpfe gehängter Ukrainer, und wir sind wieder wir, flüchten, flüchten vor dem metallischen Bellen dieser Hörner. Aber da kommen sie , holen uns ein … Wir hätten wissen können, dass Schostakowitschs Alptraum uns nur aus einem einzigen Grund wieder zu uns selbst brachte: damit wir den Becher des Leides trinken. Nicht, dass wir auf dem Blatt keinen Platz mehr hätten; wir könnten ewig nach Osten flüchten, die Sowjetunion hat keine Grenzen, aber nach weniger als drei Dutzend Takten haben die Panzer uns überholt. Und dann … Sieg! Sieg! Sie sind ganz sie selbst, ohne Gnade. Als Gong, Trommel und Becken eine triumphale Fanfare des Bösen anstimmen, zermalmen sie uns unter ihren Panzerketten; mit unseren abgeschlagenen Köpfen prosten sie einander zu …
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Am 20. August schlossen die Deutschen den Ring um das Angriffsziel ihrer Flanke, Leningrad. Am 4. September hob Feldmarschall von Leeb seinen Marschallsstab: Luftangriffe und Beschuss begannen. – Keine Sorge, Genossen, sagte unser Radio, wir haben sie an der Linie Ligowo-Pulkowo zum Stehen gebracht … – Am 6. September verkündete ein Kommuniqué des Feindes, die Umzingelung mache »Fortschritte« in Richtung Sieg, und zwei Tage darauf war die letzte Eisenbahnverbindung nach Leningrad gekappt. Am 22. September erließ Hitler, der Befreier, in seiner gewohnten Freundlichkeit die folgende Direktive über die »Zukunft der Stadt Petersburg«: Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrußlands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. (Zu seinen Gunsten sollten wir anmerken, dass er fürchtete, er
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