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vielleicht, wo es eine elegante Bar gab, in der er früher mit Elena Konstantinowskaja getrunken hatte. Vor ihm strahlte aus einem Fenster ein himmlisches Licht. Plötzlich zerbarst die Fensterscheibe mit einem schrecklichen Knall, und Wärme und Licht tropften ihm ins Gesicht.
Nina und er gingen zum Wahllokal, um über den Kandidaten für den Obersten Sowjet abzustimmen. Es stand nur ein Name auf dem Stimmzettel.
Am 6. Dezember, während der Feierlichkeiten für die neue Stalin-
Verfassung, die die Rechte aller Völker garantierte, flüsterte er Glikmann zu: Wenn sie mir beide Hände abhacken, dann schreibe ich meine Musik mit dem Füller zwischen den Zähnen …
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Er hatte nun erreicht, was man den ersten Zwischenakt seines Lebens nennen könnte: Das Orchester der Nötigung legte die vergifteten Bögen ab, und das Publikum, insbesondere Schostakowitsch selbst und alle, denen er wichtig war, durfte für einen Augenblick aufstehen, die Marmorstufen hinabschreiten und am offenen Fenster eine Zigarette rauchen. Wie würde es weitergehen? Der Genosse Stalin hatte das Programm verfasst, aber es wurde nirgendwo verteilt. Man konnte den Platzanweiser mit so vielen Rubeln bestechen, wie man wollte; über das, was kam, blieb man im Dunkeln. Die Glocke ertönte. Alles eilte wieder hinein. Die Ungeheuer sangen weiter.
Sie verhafteten seinen Schwager. Sie karrten seinen NKWD -Kontakt W. Dombrowksi fort und liquidierten ihn. Auf einen Kollegen nach dem anderen wartete der Gefangenenlaster. Seine ältere Schwester verbannten sie nach Zentralasien. Er sprach beim NKWD am Liteiny-Boulevard vor und verwandte sich für sie, aber ohne Erfolg. Er hatte kaum noch Zeit, ihr warme Filzstiefel zu kaufen …
Er fügte sich. Er ging ins Lenin-Stadion, sprang auf und öffnete den Mund, um Dynamo anzufeuern, aber kein Laut kam ihm über die Lippen. (Was ist das für ein Geräusch?, fragte er sich. Ich meine dieses, dieses Geräusch, das nicht … Wo ist es hin? Werde ich schreien, wenn ich es höre?) Glikmann rief ihn an und lud ihn ein, sich mit ihm R. L. Karmens Wochenschaubericht »Über die Ereignisse in Spanien« anzusehen, weil er ihn inspirieren könne. Der arme Glikmann – womit gesagt sein soll: Was für ein Gedanke! Trotzdem, er ging hin, einfach um, um, Sie wissen schon. Ein unmittelbares Ergebnis war seine erhebende Musik für das Theaterstück »Salut, Spanien!«. Außerdem schrieb er die Musik für den Film »Maxims Rückkehr«.
Ein Gefangenenlaster kam Tuchatschewski holen. Sie folterten ihn und stellten ihn vor Gericht. (Einen seiner sich verzweifelt selbst anschuldigenden Mitangeklagten soll er gefragt haben: Träumst du?) Im Interesse aller friedliebenden Völker liquidierten sie ihn und warfen ihn
in eine Baugrube. Auch seine Frau, seine Mutter, eine seiner Schwestern und seine beiden Brüder erschossen sie. Seine Tochter und die übrigen drei Schwestern wanderten schnurstracks ins Lager.
Nicht lange nach diesen Vorfällen wurde Schostakowitsch vom NKWD einbestellt, um Auskunft über seine Verbindung zum Verräter Tuchatschewski zu geben.
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Unser Komponist war sein Leben lang pünktlich. Wenn er ganz selten einmal eine Minute zu spät kam, entschuldigte er sich gequält. Umgekehrt packte ihn der Zorn, wenn ein Sänger oder Musiker nicht pünktlich erschien. Was ihn daher am meisten einschüchterte, war die Art, wie die Geheimpolizei ihn Stunde um Stunde warten ließ. Er saß in einer großen Amtsstube aus der Vorkriegszeit, mit Rokokowänden aus den Tagen, da Leningrad noch Petersburg war; überall lagen Papierstapel, sogar auf dem Boden, und es roch nach frischem Stiefelfett. Alle, die noch nicht aufgerufen worden waren, mussten stehen. Lächelnd wischte er sich die Stirn.
Es gab ein Fenster, aus dem er blickte, nur um etwas zu sehen, wieder ein Aufmarsch, dunkel gekleidete Menschen ballten sich unter den Kabeln und Megafonen zu einem langgestreckten Karree, einige der Transparente waren straff und gespannt, andere hingen durch. Er befand sich beinahe in Sichtweite des früheren Heeres- und Marineklubs, wo Kussewizki unmittelbar vor der Revolution Skrjabin dirigiert hatte; seiner Mutter hatte das Konzert gefallen; sie hatten die »Ekstase« gespielt. Ihr Geschmack war, nun ja. Aber dann stießen zwei Tschekisten ihn, ganz wörtlich: sie stießen ihn!, vom Fenster fort und einer von ihnen sagte: Du musst gar nicht erst springen, Kumpel. Wenn du dich umbringst, dann lassen wir es an Nina aus. Wir wissen
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