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tatarischen Pferdemetzger, der neben den Toten an einer Ziegelmauer hockte, unter der Hand ein Stück Fleisch unbekannter Herkunft. Wie fanden Käufer und Verkäufer zueinander? Nun, nennen wir es einfach eine Begegnung, wie sie für die Zeit typisch war. Später entsetzte ihn das Risiko, das er eingegangen war – Gott sei Dank erfuhr Nina nie davon; sie glaubte, Glikmann habe wieder einmal den Wohltäter gespielt. Er hätte erschossen werden können! Und das Fleisch, nun, er hoffte, dass es nicht vom Friedhof stammte; man hörte, dass auf dem Markt Wurst aus Menschenfleisch verkauft wurde. Egal. Viel einfacher ist es, du glaubst, was du siehst. Und siehst immer nur das, was du sehen willst. Hühner-Psychologie, wie seine Mutter immer zu sagen pflegte, die nun ständig von unserem unmittelbar bevorstehenden Sieg über die Faschisten plapperte.
65 Ganz genau, Mama, einhundertprozentig, sozusagen, genau! Morgen sind wir in Berlin, und dann geht das Schwein im Kreml in den Ruhestand! Ha ha ! Warum ernst bleiben? Siehst du, was für ein Glück es war, dass du mich nicht geheiratet hast, Elena?
Am dreizehnten Oktober dirigierte sein Kollege A. D. Kamenski im Radio Tschaikowski. Er wollte zuhören, aber er hatte Dienst auf dem
Dach. Er blickte über den Rand und sah neunjährige Mädchen auf Schlitten Brennholz ziehen. Sind sie zu jung, um sich zu fürchten?, fragte er sich. Oder sind sie so heldenmütig, wie es im Radio heißt? Sie sehen hungrig aus, das ist alles. Meine Kinder fürchten sich. Es liegt bestimmt einfach daran, dass ich zu weit von diesen Mädchen entfernt bin, um, um, nun, ich habe schließlich ein Fernglas. – Also beobachtete er sie durch jene wundertätigen Linsen in Militärqualität, die man ihm für das Sowfoto-Porträt geliehen hatte, und sah, dass sie sich sehr wohl fürchteten, was ihn zugleich tröstete und traurig machte. Er aber fürchtete sich nicht. Er schloss die Augen und stellte sich Elena vor, wie sie unversehrt und strahlend den langen glänzenden Gehweg zum Smolny-Kloster entlangging; seine süßeste Hoffnung war, sie könnte die Geliebte Schukows werden oder, da er schon träumte, die des Genossen Stalin, aber bei näherem Nachdenken könnte der Genosse Stalin ihr gefährlicher werden als jeder deutsche Panzer.
Am vierzehnten, zufällig der achthundertste Geburtstag des aserbaidschanischen Dichters Nizami, fiel der erste Schnee. Da aßen die Menschen schon Hunde, Katzen und Meerschweinchen aus dem Labor. Eine Verrückte verbreitete das Gerücht, die deutschen Zeitzünder-Bomben enthielten Zucker, und Dutzende starben, weil sie darauf hereingefallen waren. Eines Morgens ertappte er Nina im Bad, wie sie Haaröl trank. An jenem Tag war es sonniger, und als der Beschuss einsetzte, konnte er ganz bequem die dunkle Menschenmenge auf der anderen Straßenseite ausmachen, der sicheren Seite, deren Fassaden weiß und voller Fenster waren. Alles war schwarz und weiß, schwarz und weiß, wie Klaviertasten, wie eine bekleidete, halb mit Schnee bedeckte Leiche.
Der Beschuss hörte auf. Auch diesmal war das Konservatorium nicht in Brand geraten. Und da kamen schon unsere Jungs mit den Maschinenpistolen; in ihren weißen Winteruniformen sahen sie aus wie Beduinen, besonders da so viele von ihnen sich jetzt Bärte stehen ließen, der Wärme wegen. Und eine in Weiß gewickelte Leiche schwamm vorbei, wurde durch die weißen Straßen gezogen. Vielleicht war es eine dieser in Tücher gewickelten alten Frauen, die man zum Panzergräben-Ausheben geschickt hatte; für ein Kind war die Leiche zu groß. Zwischen den Schneewehen auf dem Friedhof warteten die Toten mit und ohne Sarg auf den Neuzugang, aber da blieben auf der anderen Straßenseite
zwei Frauen mit Schnee auf den Schultern stehen und blickten teilnahmslos eine dritte an, die eben tot umgefallen war. Er hörte das Röhren eines T-34-Motors und, weiter entfernt, die aus den Batterien der deutschen Faschisten feuernden MG -34, und dann fielen wieder Granaten auf Leningrad. Dunkel gewandete Menschenbündel flüchteten sich in die Torwege. – Schostakowitsch, sagte er sich, heute werde ich sterben. – Er versuchte, sagen wir: progressiv, philosophisch, realistisch zu sein, gar – warum das Wort nicht wieder verwenden? – optimistisch (die Straßenbahnen zum Beispiel fuhren noch; sie waren noch nicht an den Schienen festgefroren); und dieses Gefühl, das wir nach herrschender Lage für völlig unbegründet halten dürfen, wappnete ihn
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