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der ihnen wie sichtbares Schnarchen aus den Gesichtern schoss. Kasachen tigerten auf und ab, bedrohlich groß mit ihren zylindrischen Pelzmützen, und stießen kehlige Rufe aus, während russische Großväterchen quengelten und mit den Fingern zeigten, verängstigte Kinder husteten, junge Mädchen auf dem Boden saßen und Händchen hielten. Die arme Galotschka wimmerte in einem fort, rot im Gesicht. Jedes Mal, wenn eine Granate der Faschisten landete, schrie sie auf. Nina wusste nicht mehr ein noch aus. Unser Komponist dagegen bewahrte sich seinen Sinn für Humor. Eine fette Frau furzte, und er flüsterte Nina ins Ohr: Ein wenig, äh, Artillerievorbereitung, sozusagen. – Wortlos und mit großen Augen klammerte Maxim sich an ein Stück Ölkuchen.
Schließlich stiegen sie in den Zug. Und nun, Genossen: »Die Weite der Heimat«! – Im Grunde ist Russland so schmutzig und roh wie ein Manuskriptblatt von Dostojewski mit seinen vielen Streichungen, pfeilförmigen Einfügungen, hingekritzelten bärtigen Heiligen. – Unweigerlich erinnerte Schostakowitsch sich an seine frohgemute Reise von Leningrad nach Moskau vor sechs Jahren, im stromlinienförmigen Eisen des Schnellzuges mit seiner Knubbelnase und dem Stern darauf; man hätte ihn mit einer bestimmten Maulwurfsart vergleichen können, aber das wäre in dieser Epoche des absoluten Weitblicks kein passendes Bild gewesen; man stelle ihn sich besser als riesige Pistolenkugel vor, eingefasst in einen vielgliedrigen Phallus aus Stahl, der auf beiden Seiten kleine Keile aus Dampf ejakulierte, während er über die Schienen zischte. »Lady Macbeth« hatte ihm für alle Zeit die Protektion des Genossen Stalin eintragen sollen. Was dann geschah, war im Grunde, wie soll ich sagen, lehrreich. Bei anderer Gelegenheit hatte er denselben Zug bestiegen, um Elena Konstantinowskaja einen Heiratsantrag zu machen, und sie hatte beglückt und hoffnungsfroh Ja gesagt; es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass er sie lächeln sah – wahrscheinlich aber doch nicht, denn die meisten von uns können das sinnlose Grinsen nicht lassen. Ach je, wie sie bei jenem ersten Mal gestöhnt hatte! Ein Meer aus gespenstischen, aufsteigenden Seufzern, jeder dem Geräusch ähnlich, das Kinder machen, wenn sie mit den Fingerspitzen über die fest gespannten dünnen Saiten im Klavier rasen, Oktave um Oktave höher in einer dünnen metallischen Musik aus geisterhaftem
Widerhall; so hatte Elena gestöhnt, genau so, presto apassionato. Tagelang trommelten seine Finger schwach an die Stahlwand, er lächelte verzweifelt in die Leere und presste sein ergrauendes Haar an Ninas ergrauendes Haar. Er arbeitete am vierten Satz seiner neuen Sinfonie. – Eine Sinfonie! Sehr hübsch, aber das war doch gar nichts; erst wenn er Elena küsste oder tief, tief in ihr war, verspürte er Trost, Dankbarkeit, Erfüllung, völligen Frieden, wie er ihn nie zuvor empfunden hatte und nie wieder empfinden würde – nein, nein, das ist wieder eine Übertreibung; das Leben ist nicht so schick; wir müssen, verstehen Sie, essen, was man uns vorsetzt, selbst wenn es nur Ölkuchen ist – jedenfalls, zuerst konnte er sich nicht an das Gefühl gewöhnen, das Elena ihm schenkte; er traute ihm nicht, weil, nun, weil er grundsätzlich misstrauisch war, aber sie war real und beständig, von jenem ersten Abend an, als sie ihn mit ernster Miene in ihr Bett einlud; sie »gab« sich ihm nicht einfach »hin« wie andere Frauen, sie gab ihm ein Zuhause in ihrem Herzen, einem süßen, starken Haus, in dem sie beide bis ans Ende ihrer Tage hätten leben können, wenn nur das Dach nicht fortgeblasen worden wäre; und nachher, wenn sie nackt am Hotelfenster stand und rauchte, fühlte er sich ihr sogar noch näher, als wenn sie auf ihm lag; normalerweise fühlte er sich nach dem Vollzug, sozusagen, allein, besonders wenn die Frau den Blick abwandte; in Wahrheit sah Elena ihn gerade ganz und gar nicht an, aber ihr geschwungener Rücken, der noch von Schweiß glitzerte, war sich seiner noch bewusst und liebte ihn. Ich habe gelesen, er sei wirklich ein großer Liebhaber gewesen, und das aus dem gleichen Grund, aus dem er ein Musikgenie war: Er konnte Harmonien und Zwischenräume zärtlich erfassen; das ekstatische, sich senkende Augenlid einer Frau drückte für ihn ebenso viel aus wie die schwarze Klaviertaste, die er halb anschlug; sein Körper und der ihre wurden zu Instrumenten, auf denen er für sie beide ein Duett spielen konnte; in
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