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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Mannes, der das Gesicht in seine Hand vergräbt, die auf dem Rücken seiner Frau ruht, die auf seinem Schoß sitzt und trauert; das Paar bildet eine dunkle Masse aus Gram, abgesetzt gegen einen weißen Hintergrund, die Konturen negativ in Weiß gedruckt.
    Die beiden Drucke rührten ihn zu Tränen.
5 Aber als er, entschlossen, jeden Fetzen Papier dieser Künstlerin aufzuspüren, nun geradezu wild die Wände absuchte und »Hunger« entdeckte, das künftige Blatt Nr. 2 in den meisten Varianten ihrer großen Serie »Proletariat« von 1925, war das Gefühl, das ihn nun überkam, Zorn  – Zorn auf eine Ordnung, die Menschen so leiden ließ. Und wie seltsam seine Rührung doch war! Denn er hatte selbst erfahren, was Hunger war; und sein Vater hatte in den Händen der Weißen Garde gelitten. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass die Wiedergabe der Wirklichkeit wirklicher sein kann als die Wirklichkeit selbst.
    Ich habe ein Foto von Karmen mit schief aufgesetzter Matrosenmütze gesehen; er lächelt lieb, über dem ziehharmonikaartigen Instrument, das sein Vater ihm vermacht hat, lugen seine weißen Zähne hervor; wir schreiben das Jahr 1926, und er steht vor einem Spruchband für die Sache der deutschen Arbeiter. In dem Augenblick, bevor das Foto geschossen wurde, hatte er gerade wieder »Hunger« von Käthe Kollwitz gerühmt.
    Als Käthe Kollwitz 1927 in Moskau eine Einzelausstellung gewidmet wurde, gelang es Karmen, die Künstlerin zu fotografieren, aber da war er schon weniger von ihr begeistert. Er wohnte gegenüber einer Plakatwand, die Rodtschenko gestaltet hatte; sie machte Werbung für Makkaroni von Mosselprom. Jeden Tag sah er sich diese Plakatwand ganz genau an. Alle Elemente des Bildes schienen ihm präzise aufeinander abgestimmt. Rodtschenko vermittelte nicht nur Informationen, er verfremdete sie auch nach der Manier der russischen Formalisten (die noch nicht als unserer Sowjetkultur fremd verdammt worden waren). Außerdem gab Rodtschenko, ohne uns im Mindesten von seinem Auftrag abzulenken, Makkaroni-Werbung zu machen, etwas Drolliges hinzu, Humor gar – eine Eigenschaft, die unserer lieben Freundin K. Kollwitz abging.
    Gegen Ende der Dekade ist er in allen Zeitschriften vertreten, von Proschektor über Wsjemirnaja Illustrazija bis hin zu Majakowskis LEF . Mit einem Fotoapparat hatte er angefangen, aber das bewegte Bild war
es, was ihn wirklich anzog. Rodtschenko wäre zufrieden gewesen, eine einzige Moskauer Sportlerin mit kurzen Haaren abzulichten, die den Roten Stern trug, weil siewar; Roman Karmen zeigte uns Mauern aus aufblitzenden Sportlerbeinen unter kultischen Lenin- und Stalinbildern auf dem Roten Platz!
    Er fing Dimitrow ein, Gorki, Alexei Tolstoi, den Raumfahrtenthusiasten und Theoretiker Ziolkowski und sogar den ersten amerikanischen Botschafter William Bullit. In seinen Lehr- und Propagandafilmen aus dieser Zeit beugen sich Kinder an langen Tischen über ihre Bücher, Fabrikschlote stoßen über großen Transparenten und Plakaten Schwärze aus, mongolisch aussehende Männer in autonomen folkloristischen Kostümen blasen in unnatürlich lange Hörner, die an die Fabrikschlote erinnern.
    Dem Wohlwollen unseres Sowjetstaates ist es zu danken, dass er die Staatliche Fotografieschule abschließen konnte, beheimatet im Saal des früheren Restaurants Jar mit seinen Säulen aus Malachit. Zu seinen Begabungen gehörte das übernatürliche Talent, allen Menschen zu begegnen, die ihm nützen konnten, und die unbekömmlichen zu meiden. Eisenstein persönlich, immer mit der unter den Arm geklemmten Aktentasche, soll ihn freundlich betrachtet haben. Aber eine Schläue, wie sie einem Schostakowitsch zum Beispiel völlig fremd war, hielt den jungen Mann davon ab, zu viele Segnungen von diesem Gott anzunehmen, von dem man glaubte, er könne nicht mehr von seinem Sockel steigen. Stattdessen wurde er ein Protegé von dessen Rivalen Pudowkin. Er freundete sich mit L. O. Arnstam an, der Meyerholds Theater im allerletzten Augenblick verlassen hatte; als Meyerhold und seine Frau anno 37 verschwanden , wurde Arnstam nicht nur nicht abgeholt, er drehte auch munter weiter Filme für Lenfilm! Karmen und er waren unzertrennlich.
    Von Dsiga Wertow, der nach »Der Mann mit der Kamera« schon unter Formalismusverdacht stand, hielt Karmen sich privat fern, doch wir wissen, dass er ein paar Wochenschaufilme des Mannes gesehen hat. Diese pingelige Neutralität kam ihm zweifellos in späteren Jahren zugute, als er an der

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