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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Allunions-Akademie für Filmkunst unterrichtete.
    Im Schneideraum fesselten ihn sogar die Kratzer auf dem Vorspann, wenn sie ihm vor den Augen vorüberwackelten wie die Lichtbänder der Straßenbahnen im nächtlichen Moskau. Bald brachten wir ihn mit der
neoklassizistischen Säulenfassade des Lenfilm-Studios in Leningrad in Verbindung. Ein Katalog schwärmt: Ungewöhnliche Blickwinkel, die unglaublichsten Kamerapositionen, das Spiel von Licht und Schatten, die Kompositionen – das war damals alles neu, unerhört und einzigartig.
6 Von Rodtschenko hatte der Kurator offenbar noch nie gehört.
    1930, als seine Zukunft mit Elena so winzig war wie eine Bombe, die noch weit oben schwebt, und er noch nicht einmal seinen Abschluss vom Staatlichen Filmkunstinstitut besaß, bot Wladimir Jerofejew ihm an, Kameraassistent bei unserem ersten sowjetischen Tonfilm zu werden, »Weit in Asien«. Und so finden wir ihn in weiter Ferne in Asien, wo er mit dem angesehenen und schlanken Edward Tissé arbeitet und die Kara-Kum-Expedition dokumentiert. Unsere neuen Sowjetlaster werden die Prüfung bestehen! Die Temperaturen erreichen siebzig Grad Celsius.
7 Karmen filmt den letzten Schluck Wasser. Hier ein Foto von Karmen auf dem Rücken eines Kamels, einen Führer mit Turban hinter sich; er verschwendet keine Zeit; er filmt!
    In China, beim Waten durch einen Fluss, die Filmkamera wieder einem Kamel auf den Rücken gebunden; in den vereisten Wanten der Sedow , die Kamera an den Parka gepresst; im belagerten Leningrad, wie er sich über die Motorhaube eines zerstörten Lastwagens lehnt, um den richtigen Blickwinkel zu bekommen; mit der Kamera am Auge in einem Penthouse in New York; Schwenk des Kinoauges an einer langen, s-förmigen Kolonne französischer Kriegsgefangener in Vietnam entlang; so würde er sein Leben verbringen. Ein Film pro Jahr, oft auch mehr! Simonow hat ihn als immer bei der Arbeit in Erinnerung, egal ob verletzt, krank oder erschöpft, egal, wie seine Stimmung war oder wie gefährlich die Situation.
    Aufrichtig versuchte er, nicht nur die Essenz zu filmen, sondern auch die Hoffnung. Als er seine Tonfilme für die Wochenschau über die vorbildlichen Stoßarbeiter Nikita Isotow und Iwan Gudow produzierte, nahm er Gudow an seiner Drehbank auf; Isotow filmte er beim Versuch, Geometrie zu studieren. Wurde Isotow ein Geometer? Das nicht. Aber zum Dank für seine Hingabe und Produktivität gab man ihm eine Chance, es zu versuchen, die er im Kapitalismus nie erhalten hätte. Nun hatte jeder Arbeiter diese Chance. Das ist es, was Karmen uns zeigen wollte. Kann man so eine Herangehensweise Kunst nennen? Das kümmerte Roman Karmen nicht. Er war kein Formalist, er nicht!
    1933 drehte er den Film »Parade auf dem Roten Platz in Moskau«. 1938 drehte er »Tag der Arbeit«. 1948 und 1952 drehte er je einen Film, und beide hießen »Tag der Arbeit auf dem Roten Platz«. Niemand kann ihm vorwerfen, er habe die Heimatfront vernachlässigt.
    1938-39 drehte Karmen die Wochenschaureihe »Umkämpftes China«, mit offenem Schaffellkragen, die Schaffellmütze weit hochgeschoben, damit sie ihm nicht die Sicht behinderte, mit einer Kamera, die seltsam an einen eisernen Schmetterling erinnerte oder vielleicht an den Aufziehschlüssel einer Uhr an einem brennenden Turm. Wiederholt riet er seinen Kollegen, alle Punkte in beliebiger zeitlicher Abfolge zu verbinden, und hatte dabei schon lange vergessen, dass dieses Credo ursprünglich auf Wertow zurückging.
8 Aber kein Problem! Nach dieser Verbeugung vor dem Prinzip der Dynamik verband Karmen alle Punkte ausnahmslos in der Reihenfolge A, B, C. Eindrucksvoller als die Anordnung der Punkte ist die unbestrittene Tatsache, dass sein Filmteam fünfundzwanzigtausend Kilometer zurücklegte. Nach seiner Rückkehr schrieb er das Buch Ein Jahr in China , das er – Zeichen seiner Betriebsamkeit – im November 1939 begann und abschloss. Es wurde sofort veröffentlicht. Der Autor wurde in den Sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen.
    2
    Im Jahr 1936 lag er während eines italienischen Luftangriffes auf dem Rücken und filmte gerade nach oben, während um ihn herum äthiopische Frauen und Kinder starben. Er hatte immer Glück, wenn man es so nennen will. Der Dokumentarfilm, der dabei entstand, »Abessinien«, schadete den Faschisten und brachte Schande über sie. Beinahe unmittelbar darauf begann er mit der Arbeit an den zweiundzwanzig Folgen unserer Wochenschauserie »Über die Ereignisse in

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