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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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das Böse erhob, selbst draußen im Polarmeer. Er fand kaum noch Schlaf; er musste nach China! Wenn alles schon lange vorbei ist, wird K. Slawin Karmens Credo so wiedergeben: Wo Kämpfe ausbrechen, muss ich dabei sein.
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    Und so sehe ich ihn mit zwei chinesischen Rebellen in einer Felsspalte, der Soldat vor ihm zielt, bereit für den Schuss auf die japanischen Faschisten, während Karmen die Filmkamera über die Schulter des Mannes hebt, ganz vorsichtig, damit die Sonne sich nicht in der Linse spiegelt. (Elena zu berühren war viel schwieriger.) Er durchquerte elf Provinzen, die Zahl der Kilometer, die er zurücklegte, habe ich schon zitiert: fünfundzwanzigtausend, und hielt den brüderlichen Heldenmut der chinesischen Arbeiter, Bauern und Kämpfer für die Ewigkeit fest.
    In den glücklichen Tagen des Molotow-Ribbentrop-Pakts entspannt er sich mit seinem Team bei Dreharbeiten auf den Straßen der Ukraine, immer sprungbereit, für den Fall, dass etwas Sensationelles passierte. Die Kamera schwenkt über magere, grinsende Arbeiterjungen, die seltsam an Karmen selbst erinnern. Sie halten glänzende zylindrische Gegenstände umklammert, Maschinenteile vielleicht, Granathülsen oder Pokale. Ein ukrainischer Ingenieur weint vor Freude! Gerade hat man ihm Arbeit in unserer Sowjetunion gegeben. Und Roman Karmen ist dabei und filmt. Dieser Film, »Ein Tag in der neuen Welt«, hatte neben Karmen noch sechsundneunzig weitere Kameramänner. Voller Stolz kann ich Ihnen mitteilen, dass der Film den Staatspreis unserer UdSSR gewann.
    5
    Vom Eheleben des Genossen Karmen scheint es kein Filmmaterial zu geben, nicht einmal eine gerahmte Fotografie des jungen Paares. Ich besitze einen Abzug jenes berühmten Fotos, auf dem er in einer Reihe mit fünf anderen Kriegskorrespondenten posiert, alle in Uniform, ein paar davon mit der Zigarette in der Hand, und hinter ihnen ein Flugzeug, auf dessen Leitwerk der weiß umrandete rote Stern unserer sowjetischen Luftwaffe prangt. Man schrieb das Jahr 1943. Ich weiß, dass Elena das Bild ihr Leben lang bei sich trug. Als sozial gesinnte Sowjetfrau sah sie ihren Gatten am liebsten im Kreise seiner Kollegen.
    Im Herbst 1940 fand Elena heraus, dass sie schwanger war. Sie arbeitete weiter am Leningrader Konservatorium und auch in Moskau. Karmen verließ Moskau, um auf der Insel Silberwald bei ihr zu sein, am Tag, der für ihre Niederkunft angesetzt war: dem 22. Juni 1941.
    6
    Anders als wir anderen, glaubte Karmen sofort, was er im Radio hörte. Er eilte zurück in sein Atelier. Zwei Tage später saß er in einem Militärzug, auf dem Weg an die Front, mit seinen Lieblingskameramännern Lytkin und Scheer. In Welikije Luki brachte ein Angriff der deutschen Faschisten den Zug zum Stehen. Seine allerersten Aufnahmen des Krieges, gedreht aus einer Maschinengewehrstellung, halten fest, wie unsere Soldaten beim aussichtslosen Gegenangriff fallen. (Via Feldfernsprecher setzte man ihn in der zerstörten Stadt davon in Kenntnis, dass Elena eine Tochter zur Welt gebracht hatte.) Ganz nach den Gesängen der Achmatowa nannten wir uns eine »Familie in Trauer«. Roman Karmen schwenkte über eine Reihe toter Pferde an einer Ziegelmauer …
    Eine sowjetische Kavalleriedivision galoppierte wie verrückt mit gezogenen Säbeln auf das Maschinengewehrfeuer los. Alle fielen. Roman Karmen war dabei und filmte es.
    Lytkin schrie auf. Eine Kugel hatte ihm die Schulter durchschlagen. Karmen wollte ihn trösten und sagte: Wie kostbar diese Aufnahmen für uns alle sein werden, diese ersten Bilder der Chronik des Großen Vaterländischen Krieges!
318
    Er zielte mit seiner Linse auf Lytkin, der zurückgrinste, so tapfer er konnte. Einen Arzt gab es nicht.
    7
    Unsere nervös lächelnden russischen Jungs in ihren Wintermänteln, die sie nun ein halbes Jahrzehnt lang winters und sommers tragen würden, sie waren seine wahren Helden. Seine Filme mit dem Titel »Berichte aus dem Krieg« für das Sowkino-Journal stellten gewöhnliche Menschen heraus, die sich gedrängt und durch die Not gezwungen sahen, ihr Leben hinzugeben, und stilisierte sie zu Freiwilligen! Und waren sie es etwa nicht? Von Elena hörte er, selbst Schostakowitsch habe sich freiwillig gemeldet … Er filmte unseren Rückzug und gab treuherzig sein Bestes, um ihn als Sieg darzustellen. (Blass und müde, dabei noch immer aufgekratzt, sehen wir ihn auf einer Waldlichtung an unserer Westfront stehen, eine Hand auf dem Stativ; er blickt uns gewinnend an, und neben ihm

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