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Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Spanien«.
    Mir ist der Vorgang so beschrieben worden: Karmen schrieb dem Genossen Stalin einen persönlichen Brief, überbrachte ihn selbst den Wachen an den Kremltoren und wartete eine Woche lang – wie in einem alten Gleichnis! –, und dann wurden er und sein Ko-Kameramann Boris Makasejew vor den Zentralausschuss für das Filmwesen gerufen. Am Morgen darauf saßen beide in einem Flugzeug nach Madrid. Ro
man Karmen hatte einfach immer Glück! Am selben Tag zitterte Schostakowitsch daheim in Leningrad und wartete auf seine Verhaftung …
    Zwei deutsche Panzersoldaten, die Barette schief auf dem Kopf, rollen in Richtung Madrid, das große Geschütz zwischen ihnen ist in den Himmel gerichtet. Irgendwie hat Roman Karmen sich in einem Graben versteckt und filmt sie! Mit den Worten K. Simonows: Als wir die Filme sahen, die Karmen aus dem fernen Spanien schickte, verzehrte uns junge Dichter ein brennender Neid auf diesen Mann, den wir nicht kannten, diesen Mann mit der Kamera, der nun im Kampf gegen den Faschismus an der vordersten Front stand.
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    Straßenkämpfe in San Sebastián und Irún; Frauen, die in den Außenbezirken Madrids Verteidigungsstellungen bauen, wie sie es bald auch in den Außenbezirken Moskaus tun würden; ein Stierkampf auf der Plaza de Torres in Barcelona, nach dem Stierkämpfer und Zuschauer geradewegs an die Front zogen – und da haben wir unseren adretten jungen Mann, das dunkle Barett lässt die Ohren frei, er hält den langen Griff seiner Filmkamera gepackt, beugt sich vorwärts und nach unten in Richtung ihres Rüssels. (Dsiga Wertow: Die Aufnahmen in Spanien stellen eine unbestreitbare Leistung sowjetischen Filmschaffens dar und zeigen den großen Einsatz von Makasejew und Karmen. Makasejew wurde zuerst aufgeführt, aber egal. Ihre Linse richtet sich nun auf den wahren, unmittelbaren und heroischen Aspekt des Ringens .)
10 Mit jedem dieser zweiundzwanzig Wochenschaufilme warnte er uns: Dies ist nur der Anfang der faschistischen Aggression, ein neuer großer Krieg steht bevor.
    Die gefährlichsten und schreckenerregendsten Sequenzen des Dokumentarfilms »Spanien« drehte er allein, denn als für Madrid die Zeit des lodernden Untergangs gekommen war, reiste selbst Makasejew ab; Roman Karmen war der einzige Kameramann, der den Mut hatte, zu bleiben.
    Einer seiner Wochenschaufilme aus dem Jahr 1936 ging Elena wirklich nahe: der berühmte mit der Nahaufnahme des entschlossenen jungen Mädchens, das die geballten Fäuste erhebt; hinter ihr erheben sich noch mehr junge Menschen für Spanien, die Gewehre in der Hand. Und so ging sie nach Spanien. Das war mutig, ganz bestimmt. Natürlich habe ich auch gehört, sie sei damals irgendwie von Liebeskummer geplagt gewesen.
    Was ging in ihr vor? Wir werden es nie erfahren; sie bleibt uns so verschlossen wie die Deutschen. Aber nicht nur die heroische Leidenschaft dieser Filme dürfte sie gefangen genommen haben, sondern auch der Mann selbst. Sergej Drobaschenko erinnert sich an ihn als an einen Mann voller Energie und Eleganz – das Gegenbild des hilflosen zerzausten Schostakowitsch.
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    3
    In der Heimat gingen Schostakowitsch und Glikmann in jede Fortsetzung von »Ereignisse in Spanien« und sahen die Loyalisten stolz lächeln, unter ihren dreieckigen Kappen, die an gefaltete Stoffservietten erinnerten. Schostakowitsch war aus irgendeinem Grund nervös – ach je, schrecklich nervös! Von der Leinwand des Filmpalastes starrten die Loyalisten auf sie herab, die Gewehre fest in der Hand; und Schostakowitsch, dessen Lächeln irgendwie so holperig war wie später die vereisten Straßen Leningrads, sagte, er freue sich, wissen Sie, sehr für Elena.
    Zweifelsohne kreisten seine Gedanken manche Nacht darum, wie es Elena Konstantinowskaja und Roman Karmen in Spanien ergehen mochte. Mir ging es jedenfalls so. Natürlich kenne ich das Foto von Elena mit ihrem Orden des Roten Sterns. [ 24 ] Sie bekam immer, was
sie wollte – außer in einem Fall natürlich. Also bekam sie Karmen. Möglicherweise hatte sie schon vor Jahren ein Auge auf ihn geworfen, nach seinem packenden Wochenschaubericht über den Arktis-Flieger Farich, gedreht am verschneiten Flughafen. Piloten und Raketenflieger hatten Elena schon immer angezogen. Aber wer über Elena schreibt, gerät bald in Verlegenheit. Sie bleibt undurchschaubar.
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    Was ist mit Karmen? Er hat wenig über ihre gemeinsame Zeit gesagt, vielleicht, wie ein alter Sklavenhalter einmal schrieb, weil nichts schmerzhafter

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