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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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ist als die Erinnerung an Tage des Glücks in Zeiten des Jammers. Beschränken wir uns also lieber auf Zeugnisse von außen, und damit meine ich nicht die offiziellen Fotografien. Dort sehen wir ihn freudlos und jungenhaft neben dem bourgeois-romantischen amerikanischen Autor E. Hemingway grinsen, beide tragen die dunkle Baskenmütze der Kämpfer. Er hält seine Kamera im Schoß. Hemingway sieht gelangweilt drein. – So viel sei verraten: Roman Karmen hat es immer gut gemeint, und seine Filme haben uns ganz aufrichtig erbaut und verherrlicht; sein Zorn für unsere Sache war ein liebevoller, konstruktiver Zorn, wie der Lenins; er wütete gegen die faschistischen Mörder; er hasste Ignoranz, Ausbeutung, Armut; er hatte ein gutes Herz. Das Schönste und Erstaunlichste an der Revolution war, dass wir uns getrieben fühlten, Dinge zu tun, die eigentlich zu groß für uns waren – schon die Revolution selbst ist ein Beispiel! –, und dass sie uns gelegentlich sogar gelangen. Schostakowitschs Experimente und die von Rodtschenko, Wertow, Ziolkowski waren alle vom selben Schlag. Wir träumten einen gemeinsamen Traum, einen Traum im großen Traum des Genossen Stalin. Und Karmen wuchs über sich hinaus! Ist es zu hart, ihn Mittelmaß zu nennen? Ich denke nicht. Ein Mann ohne Beine ist ein beinloser Mann, und es kann nie ungerecht sein, auszusprechen, was einfach wahr ist: Dass ihm die Beine fehlten, ist nicht seine Schuld. Und ist
es Karmens Schuld, dass er in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie nicht stärker herausgehoben wird?
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    Und nun zu Spanien: In seinen Wochenschaufilmen gibt es eine bestimmte, unglaublich aufrüttelnde Sequenz: Eine schwarzgekleidete alte Dame hält ein ebenfalls schwarzgekleidetes Kind auf dem Schoß wie bei K. Kollwitz; das Kind schaut weg, die alte Dame blickt uns mit Furcht in den Augen geradewegs an; dann trifft uns der Blick eines Jungen aus größerer Ferne; weiter vorn sehen wir von der Seite eine Frau auf einer Decke, die uns geheimnisvoll anblickt; alle sitzen sie auf dem Boden; und im Vordergrund liegt eine Gestalt auf der Seite und wendet uns den Rücken zu, die blassen Hände nach diesen anderen ausgestreckt; sie hat ein Bündel unter ihrem Kopf, und zuerst können wir nicht sehen, ob das Etwas darin noch lebt oder schon tot ist. (In einer anderen Kopie desselben Films sind die kollwitzartige Mutter und ihr Kind gar nicht schwarz. Wir erkennen mehr Details. Alles ist heller und grauer.) Diese Menschen sind Flüchtlinge; die Bomber der Faschisten kommen. Und hier ist es Karmen irgendwie gelungen, künstlerisch zugleich seinem Gegenstand und seinem Herzen gerecht zu werden. Warum gerade jetzt? Vielleicht weil er verliebt war.
    Genau an diesem kritischen Augenblick seiner Karriere können wir beobachten, wie Karmen sich langsam von Gruppenaufnahmen abwendet und einzelne Menschen aufnimmt. Und wieder frage ich mich warum; die gleiche Antwort drängt sich auf: Seine Gefühle für Elena Konstantinowskaja führten ihn dazu, endlich mit ganzer Seele zu begreifen, dass ein Einzelner genauso gut für alle stehen kann wie alle für einen. Es muss ihre Leidenschaft füreinander gewesen sein, die bald zu einer Ehe erblühte, und das lenkte ihn davon ab, den Abtransport der Goldreserve Madrids nach Moskau zu filmen
15 oder unsere gerechte und notwendige Liquidierung des Trotzkisten Andrés Nin, der in einem spanischen Gefängnis saß.
16 Eine andere Sequenz aus »Die Ereignisse in Spanien«: Eine lange Kolonne behelmter Soldaten mit gekreuzten Patronengurten, einige von ihnen mit Ferngläsern, Munition zu Füßen; sie blicken starr nach vorn. Plötzlich zoomt die Kamera an eine Frau mit langen, dunklen Haaren heran.
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    Elf Monate lang blieb er in Spanien. Kaum war er nach Moskau zurückgekehrt, flog er in die Arktis, auf der Suche nach Lewanewskis Flugzeug, dieser Reliquie des gescheiterten Amerikafluges über den Pol. Ein ganzes Jahr verbrachte er in der Arktis, beziehungsweise auf der von den Deutschen so benannten Rudolf-Insel. Im gleichen Jahr tat er das Vernünftige und trat in die Kommunistische Partei der Sowjetunion ein.
    Inzwischen vertrauten wir ihm genug, ihm die Mittel zu geben, seine eigenen Filme zu inszenieren: »Die Männer der Sedow« im Jahr 1940 und »In China« im Jahr darauf. »Die Männer der Sedow« war seine Erholungspause; die gestrandeten Besatzungsmitglieder posierten artig vor dem Flickwerk aus schwarz-weißem gefrorenem Stahl; aber er spürte, wie sich überall

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