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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Staatsräson wegen. Seine Frau war enttäuscht gewesen; sie hatte seinen goldenen Drachen sehen wollen … Er hoffte und glaubte, dass ihm der Ausbruch aus seinen neuen Schwierigkeiten gelingen könnte, und antwortete auf die Plaudereien der Männer vom SD höflich, aber nicht unterwürfig. Sie wollten wissen, welche Landschaften auf der Krim er am schönsten fand. (Er hatte sich dort im Kampf gegen die Monarchisten ausgezeichnet, im Jahr 1920.) Dann erzählte der SD -Hauptmann ihm von einem Segeltörn auf dem Bodensee. Sieben Jahre war es her, dass er das große Los gezogen hatte, dank der »Kraft durch Freude«-Initiative des Führers. Ob General Wlassow schon einmal vom Bodensee gehört habe? Wlassow nickte und räusperte sich.
    Als sie merkten, dass er keine Fluchtversuche unternahm, sagten sie ihm schließlich, wo die Reise hinging. – Nach Winniza, ja, antwortete er mit seinem nichtssagenden Lächeln. Früher das Hauptquartier von General Tjulenew, das weiß ich noch …
    (Mehr als ein Drittel der bewaffneten Streitkräfte des Volkes waren bereits nicht mehr einsatzbereit – die vielen Schulmädchen, die nun beim Bau wirkungsloser Panzersperren ums Leben kamen, nicht mitgerechnet. Diese Zahl wollte ihm wieder und wieder aus dem Kopf ausbrechen.)
    Obwohl ihr Transport an mehreren der neuen Konzentrationslager vorüberkam, in denen die Russen unter freiem Himmel hinter Stacheldraht kauerten, krank und durstig, und mit bloßen Händen nach Mäusen und Regenwürmern gruben, um weniger schnell zu verhungern, soll Wlassow davon angeblich nichts gesehen haben. Das aus dem Fenster Blicken gehört schließlich nicht zu den Freizeitbeschäftigungen, die man Kriegsgefangenen erlaubt. Es wäre außerdem nicht fair, der deutschen Regierung wegen dieser Lager Böses zu unterstellen, denn es dauert, bis man besetzte Gebiete in Ordnung gebracht hat. Bald, wenn diese Gebiete gründlicher germanisiert waren, würde man die Überlebenden, einen von zehn, in gestreifte Uniformen stecken, mit einem roten Dreieck darauf und darin dem Buchstaben.
    10
    Winniza, wo, um mit einem dichtenden deutschen Polizisten zu sprechen, wir zwei Welten sahen und drum eines nur gelten lassen (nämlich einen Frieden, den unser Schwert beschützt, einen Frieden, der unserem Volke nützt ), war eben erst judenfrei geworden.
10 Heutzutage würden wir den Ort wahrscheinlich als »strategisch bedeutsam« einstufen, denn er hatte sich rasch zum Knotenpunkt für militärischen Verkehr aller Art entwickelt. Durch den Stacheldraht sahen die Gefangenen oft Prozessionen gepanzerter Truppentransporter vorüberziehen, dicht besetzt mit Deutschen, die Helme wie Pflastersteine. (Ja, jedes Wort ist wahr, flüsterte ein vor Gram verrückter Major Wlassow ins Ohr. Allein in Smolensk haben sie einhunderttausend von uns gefangen genommen …) Lange Lazarettzüge rasselten in Richtung Hinterland; Munitionslaster und schneidige Kradmelder fuhren in die Gegenrichtung.
Vor ein paar Wochen erst hatte der Führer sich am Stadtrand sein jüngstes militärisches Hauptquartier eingerichtet, in einer dezenten kleinen Anlage im Wald namens »Werwolf«. Und weil Werwolf ein so großes Geheimnis war, wussten selbst die Insassen des Gefangenenlagers alles darüber. Es hieß, der Führer wolle dem Angriff auf die Ölfelder des Kaukasus seinen persönlichen Stempel aufdrücken. Ihm würde Stalingrad nicht lange widerstehen! Niemand wusste, wann der Fall Moskaus letztlich vorgesehen war, aber das Drama des nahenden Sieges erfüllte alle Insassen mit rasender Ungeduld, ganz im Gegensatz zu der Resignation, die man vielleicht hätte erwarten können; denn die »Prominenten« konnten sich nicht helfen, sie hatten das Gefühl, wenn der Krieg in sechs Monaten vorüber war, wäre es schon zu spät, sich den neuen Herren anzudienen. Was Wlassow anging, ihm schenkte seine unerwartete Nähe zum Oberhaupt der deutschen Regierung Hoffnung. (An jeder Wand bot sich ihm der Anblick von Plakaten, auf denen geschrieben stand:.) Er kannte seine eigene Bedeutung und wusste, dass die Vernunft dem Führer gebot, ihn zu retten, seines Nutzwertes wegen. Was er selbst wollte, wusste er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht. Er blieb entschlossen, seine Redlichkeit in seinem Inneren hinter den tiefsten, allerkonzentriertesten Verteidigungslinien einzugraben. Auf dem Gesicht aber spürte er den verführerischen Hauch der günstigen Gelegenheit.
    Ein fotogener alter Bauer, muskulös und mit prächtigem

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