Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
Anschließend stellte er sich zu den aufgereihten-Lamettaträgern, alle mit den Händen in den Taschen ihrer langen grauen Mäntel, und fühlte sich verpflichtet, sich vorzubeugen und die kaum ausgestreckte Hand des-Standartenführers zu schütteln, der steif lächelte und sagte: Ihr Russen seid keine Soldaten im eigentlichen Sinne des Wortes. Ihr seid der ideologische Feind. – Wlassow zuckte die Achseln. Sein Leben war ihm kaum noch wichtig, ebenso wenig wie, so nahm er wenigstens an, der Schmerz seiner alten Liebe, die nun in den Winterschlaf fiel, aber noch immer ansteckend war wie ein Virus, der auf Kontakt zu seinem Wirt wartete, weshalb dieser Wirt, seine Redlichkeit, sanft lächeln und sich fernhalten musste und geduldig darauf warten, dass seine Liebe zu ihr erstarb. Weiter in die nächste Fabrik, den Arbeitern Hoffnung auftragen statt Brot! Dann, mit echt deutscher Mobilität, reiste er zurück nach Riga, das wuchernde Gras auf den Eisenbahnschienen verlor den Kampf mit dem grauen Sommerhimmel; und hier hatte er weitere
Arbeiter zu treffen und dann eine Abordnung der Orthodoxen Kirche. Zur Rechtfertigung der Existenz seiner noch immer hypothetischen Russischen Befreiungsarmee zitierte er das Sprichwort: Was der Russe noch erträgt, kann für den Deutschen schon der Tod sein.
45 (Wann immer er an Russland dachte, wurde er von unreinen Gefühlen heimgesucht, wie Wasser und Blut, die aus Massengräbern sickerten.) In Luga durchbrachen die Massen den Polizeikordon, wie sie es Jahre später beinahe in Moskau tun würden, als dort zum ersten Mal der amerikanische Pianist Van Cliburn auftrat.
    Wollt ihr Sklaven der Deutschen sein?, wagte er zu rufen.
    Nein!
    Dann kämpft an meiner Seite! Kämpft für ein freies, dem Reich ebenbürtiges Russland! Zeigt den Deutschen, was wir erreichen können!
    Angeekelt lächelten die-Leute. (Im Grunde lächeln die Deutschen auf Fotografien neben Wlassow immer einen Hauch zu breit.) Im Gang stritt sich mit gedämpfter Stimme ein Hauptsturmführer von der Waffen-mit Strik-Strikfeldt. Der Hauptsturmführer von der Waffen-sagte: Wenn man Wlassows Armee eine Fahne gäbe …
    Haben wir doch schon!
    … müsste man auch seine Soldaten als Kameraden behandeln, und dann würde die russische Nationalidee zum Durchbruch kommen. Nichts wäre unerwünschter als solch eine Entwicklung.
46
    Ja ja, sagte Strik-Strikfeldt und lächelte die vorhangartigen, trauerweidengleichen Flügel des Adlers am Panzerschlachtabzeichen des Mannes von der Waffen-an, aber, wenn Sie mir den Einwand erlauben, könnte es sich nicht als kontraproduktiv erweisen, der Bevölkerung hier alles zu nehmen?
    Ich bin mir nicht sicher, dass Sie die Lage richtig einschätzen, Hauptmann Strik-Strikfeldt. Ist Ihnen nicht bewusst, dass der Führer bereits persönlich verfügt hat, dass unsere Ostgebiete binnen zehn Jahren vollkommen deutsch zu sein haben?
    Davon habe ich in der Tat gehört, mein Freund, obwohl ich nie erlebt habe, dass …
    Dann überheben Sie sich nicht.
    (Um seine These, dass sich die militärische Lage noch immer wenden ließe, mit Nachdruck zu bekräftigen, erklärte Wlassow allen Ernstes:
Das Problem, wie man einen taktischen Durchbruch in einen Durchbruch auf breiter Front verwandeln kann, wird eben erst gelöst.)
    Sie müssen ihn entschuldigen, er denkt russisch. Und schließlich, ganz rational betrachtet …
    Ich habe Wlassows Manifest gelesen. Es stinkt nach Rationalität , so viel ist sicher.
    Jetzt applaudierte das Publikum, aber später wollte nur ein einziger Mann, ein Funktionär aus dem Gebäudeinspektionsamt der, mit Wlassow sprechen. Strik-Strikfeldt, der den Kampfgeist seines Lieblingsredners stärken wollte, sagte: Mein lieber Freund, Sie haben für die besetzten Gebiete geleistet, was auf der anderen Seite Schostakowitsch für Leningrad geleistet hat! Welche Kraft Ihre Propaganda hat!
    Reine Propaganda war nicht mein Ziel.
    Hinterher wirkte er zufrieden, denn sie hatten ihn verhätschelt wie ein Kind und ihm das letzte Wort gelassen; aber dann sahen sie ihn dasitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Strik-Strikfeldt lief zu ihm: Stimmt etwas nicht, alter Freund?
    Nur ein leichter Fall von Überrumplungseffekt, sagte er mit einem heiseren Lachen.
    In den Kriegsgefangenenlagern sprach er vor den Barackenältesten, die schwarze Armbinden trugen. (Jemand spielte Ziehharmonika.) Er gab ihnen zu bedenken, es könne besser sein, gegen den Imperialismus zu kämpfen, als Steinblöcke zu

Weitere Kostenlose Bücher