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durchbrechen, jederzeit. Was, wenn der Krieg wirklich verloren war? Vielleicht konnte Heidi selbst dann noch First Lady des neuen Russlands werden, wenn Sie den General Wlassow heiratete und er … – Wie alle, die mit derzu tun hatten, hatte sie sich angewöhnt, in grandiosen Visionen zu denken. Außerdem bestand ihre Mutter darauf, dass Wlassow und sie heirateten und ihre Beziehung legalisierten.
Andrej, mein Liebling, was hältst du von dem, was ich eben gesagt habe?
Mit dem Blick auf die Karte, nicht auf sie, antwortete er mit einem traurigen kleinen Grinsen: Oh, na ja, in Moskau musste ich alles auf an Panzer gebundenen Schlitten transportieren. Der Kampf ums Überleben …
Sie schloss ihn stürmisch in die Arme. Sie sagte: Ich verstehe dich aus tiefster Seele.
Die Ablehnung ihrer Freunde und besonders ihrer Mutter, die sich nie gedacht hätte, dass ihre Tochter zur Rassenschande mit einem Slawen fähig sein könnte, schmerzte sie gewiss, kam aber nicht unerwartet. Außerdem kommt im Leben fast eines jeden Menschen der Augenblick, da das Schicksal (wie der Führer sagen würde) uns anbefiehlt, den Golf des Wandels zu überqueren und uns in einer antipodischen Welt neu einzurichten. In solchen Zeiten schrumpfen selbst die allerernstesten Protestbekundungen der Menschen, die uns lieben, zu reinen Abreiseformalitäten zusammen.
Und vielleicht stärkte es Heidis Selbstvertrauen, dass sie dem Mann, den zu heiraten sie sich bereit erklärt hatte, auf jede erdenkliche deutsche Weise überlegen war. Oh, das konnte sie sich ohne jedes Selbstmitleid eingestehen! (Anschuldigungen, der sonnige Strik-Strikfeldt, den alle unverzichtbar fanden, habe ihr eine Abschrift von Wlassows Gestapo-Akte geliehen, lassen sich nicht gänzlich abtun.)
Er strich ihr übers Haar. Aus irgendeinem Grund wirkte er besorgt oder verkrampft.
Sie murmelte: Andrej, Liebling, ich weiß, du wirst mir ewig dankbar sein und mir alles geben, was ich will …
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Was ist eigentlich aus Mascha geworden, Wilfried Karlowitsch?
Mein lieber Freund, ich habe nicht genug graue Zellen, um mich an jeden Frauenrock zu erinnern, dem Sie …
Sie war Sekretärin in der Viktoriastraße.
Sekretärin, sagen Sie? Eine Illegale vermutlich. Hier, sehen Sie selbst; wir haben niemanden dieses Namens auf der Personalliste. Nun kommen Sie schon, was gucken Sie mich denn so finster an? Glauben Sie wirklich, hier im Reich verschwinden Menschen einfach ohne Grund? In Stalins Russland ist das etwas ganz anderes …
Sie ist …
Unser treuer Verfechter der »Wlassow-Aktion« bedeutete ihm mit erhobenem Finger zu schweigen. Aus weiter Ferne hörten sie beide das kurze Jaulen der Frühwarnsirene. Dann zuckte er die Achseln und sagte Wlassow: Ich fürchte, Sie lassen sich wieder von gewissen Vermutungen einengen. Denken Sie nach. Wäre es rational, jemandem etwas zuleide zu tun, der unseren Kriegsanstrengungen nützen kann?
Nein. Rational nicht …
War Sie Ihnen denn wirklich so wichtig? Wenn ja, dann kann ich vielleicht …
Sie war ein kleiner Flirt, mehr nicht, antwortete Wlassow auf seine trockene Art. Aber ich sorge mich um sie als Mensch.
Höchstwahrscheinlich arbeitet sie in einer Rüstungsfabrik. Übrigens, wie geht es Ihnen mit Heidi? Sie sollten wissen, dass man sich in Anerkennung Ihrer harten Arbeit über gewisse Regeln hinwegsetzen wird. Ihre Verbindung mit Heidi ist auf höchster Ebene abgesegnet worden. Oder steht ihr etwas im Wege? Woran spielen Sie denn da immer in der Tasche herum? Ach, verstehe, das muss Ihre dumme Patronenhülse sein …
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Am 22.3.43 sehen wir ihn die Vereidigung des ersten Offiziersjahrgangs in Dabendorf leiten. Er war sehr stolz auf seine Kokarde der Russischen Befreiungsarmee, aus den gleichen Farben wie die französische Trikolore und das amerikanische Sternenbanner. Er packte das Pult, das ihm kaum bis an die Hüfte reichte, und setzte seine Rede fort: Von jedem von euch erwarte ich, nicht nur Farbe zu bekennen,
sondern ein fanatischer Kämpfer für unsere Ideale zu sein. Was meine ich mit Fanatismus? Nun, beschäftigen wir uns kurz mit der Logik dieses Krieges. Logisch betrachtet sind wir nicht in der Lage, die Bolschewiken mit ihrer unvergleichlich höheren Truppenstärke zum Rückzug zu zwingen. Die Logik befiehlt uns, unseren Kampf aufzugeben. Daher rufe ich euch auf, die Logik hinter euch zu lassen. Als ich in Lwow das 4. Panzerkorps befehligt habe, griffen wir die 6. Armee an – lange vor Stalingrad,
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