Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
Bayern. Seine Hoffnungen erinnerten an gefrorene Leichen mit ausgestreckten Händen auf dreckigem, schmelzendem Schnee.
    38
    Und so sah Wlassow sich erneut gezwungen, seine eingekesselte Armee aufzulösen und seinen Männern zu raten, in kleinen Gruppen auszubrechen. Einige hatten das Glück, bis zu den Amerikanern zu gelangen, und ergaben sich ihnen. Wlassow war natürlich nicht darun
ter. [ 33 ] Sein Kreuzweg blieb zeitgemäß: zuerst die Brücke mit einer britischen Wache am einen, einer sowjetischen am anderen Ende, dann die Weggabelung hinter dem Wald, wo leichte Panzer und Suchscheinwerfer den »faschistischen Abschaum« bösartig als Übungsmaterial benutzten; dann der Platz hinter dem Stacheldrahtverhau, gefolgt vom ersten Verhör im Zelt bei Laternenschein ( NKWD -Männer drängten sich hinein und gafften ihn an wie ein Krokodil); die ersten Prügel; die langsame Reise nach Osten durch eine Kette von Gefängnissen; die Durchsuchungen, Folterungen, Verhöre; die luftleeren und fensterlosen Abteile der Gefangenentransporte, die über die kriegsversehrten Straßen schlingerten; das Murmeln des Moskauer Verkehrs; schließlich die Zellen der Lubjanka. Als Erstes hatten sie ihm sein Andenken weggenommen (Geco, 7,65 Millimeter). Sie schlugen ihm ins Gesicht und hielten triumphierend die deutsche Patronenhülse in die Luft – der beste Beweis, dass er ein mörderischer Hitlerianer war! Wlassow wischte sich das Blut vom Mund. Er wollte einfach nur die Formalitäten hinter sich bringen.
    Eine Fotografie zeigt ihn in Moskau vor dem Militärgericht. Nach einem Jahr der »Verhöre« ist er bleicher denn je, aber anders als einige der anderen Angeklagten, die demütig die kahlen Köpfe senken, steht er trotzig da, die Zähne zusammengebissen, die dicke Brille (die man ihm an dem Tag abnehmen wird, an dem man alle zwölf Männer aufhängt, und dann nicken ihre Köpfe nachdenklich, während sie vor der Ziegelmauer baumeln,) verstellt den Blick in seine Augenhöhlen. [ 34 ] Er rieb sich die nackte bleiche Stirn und fragte sich, ob irgendein Amalgam
aus Voraussicht und Entschlossenheit seine Kameraden retten könnte. Er glaubte nicht. Gerade da wurde er von der feindseligen Aussage seines ehemaligen vorgesetzten Offiziers K. A. Merezkow abgelenkt, der ihn (wie er inzwischen glaubte) am Wolchow im Stich gelassen hatte und ihm nie einen besseren Talisman hatte mitgeben können als die bedeutungslose Phrase von der lokalen Überlegenheit.
    Merezkow sah dieser Tage ziemlich gut aus. In den Aussagen, die er dem Gericht darbot, bezog er sich mehrmals auf den »faschistischen Mietling Wlassow«. Mit einem letzten Rest seiner alten Energie lächelte der Beschuldigte ihn an, und seine Brillengläser leuchteten wie die Augenhöhlen eines Totenschädels.
    Der Ankläger wollte wissen, welche seiner Mitgespenster und -schatten ihn zuerst in die antisowjetische Verschwörung hineingezogen hätten. Wlassow räusperte sich. Er leckte sich den Stumpf eines frisch ausgeschlagenen Zahns. Er erinnerte sich daran, wie Stalin ihm einst gesagt hatte: Sagen Sie die Wahrheit, wie ein Kommunist!, und übernahm für sein Handeln die volle Verantwortung.
    Man könnte seinen Fehler Kosmopolitismus nennen, den die Große Sowjetische Enzyklopädie als die bürgerlich-reaktionäre Ideologie des sogenannten »Weltbürgertums« definiert. Der Kosmopolitismus neigt zum All-Umfassenden. Aber in Wahrheit verstecken sich dahinter nur die aggressiven, grenzüberschreitenden Kapitalströme. Humanistischer Pazifismus und Utopismus sind die beiden anderen Masken desselben Phänomens – das sich natürlich nicht mit dem proletarischen Internationalismus vergleichen lässt.
72
    Am 2. August 1946 erklärte die Iswestija, gemäß Artikel 11 unseres Strafgesetzbuches sei an dem Verräter A. A. Wlassow die Todesstrafe vollstreckt worden.
    ----
    [ 29 ]  In unserer Sowjetunion darf man natürlich nur auf eine hoch begeisterte, geradezu militante Weise apolitisch sein. Es heißt, Wlassow sei bei einer Gelegenheit, als er eben den heuchlerischen, brutalen, ja mörderischen Ton eines Artikels in der Prawda kritisierte, vom Besuch eines Parteiapparatschiks unterbrochen worden. Sofort habe er selbigen Artikel gelobt. Als der Gast schließlich gegangen war, sagte Wlassows Frau, die wie betäubt in der Tür stand: »Kannst du wirklich so leben, Andrej?«
5
    [ 30 ]  Hier lässt sich eine weitere Allegorie einfügen. Der Stahl war das Metall der Stunde. Hitler und Mussolini

Weitere Kostenlose Bücher