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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sich am versoffenen Gesicht herum. Aus der Ferne hörten sie ein Donnern. Wlassow starrte auf den Verdunklungsvorhang. Er fühlte sich in der kleinen Küche so eingeengt, dass er kaum noch Luft bekam.
    (Ja, genau – enttäuschte Hoffnungen! Genau wie der Führer selbst, der sich, ganz Sklave seiner Illusionen, was die Lage anging, konsequent geweigert hatte, unter dem Druck der Angriffe eine Verkürzung der Ostfront zu erlauben, und so den Russen ermöglichte, erst durchzubrechen und dann viele seiner wichtigsten Einheiten einzukesseln, so hatte Wlassow seinen vielen Hoffnungen nicht die Kraft der Mobilität geschenkt. Glaube verkleidete sich als Vernunft; Speerspitzen des Zufalls isolierten seine statischen Hoffnungen, und die Hoffnungen schieden dahin.)
    Sobald die kleine Frauke schlief, zog seine Frau ihn ins Schlafzimmer. Die Liebe und Bedürftigkeit in ihrem Blick beschämten ihn. Sie war so unerschütterlich geblieben wie die Sterne an seinem Kragen. Sie weinte leise und bat ihn, sie zu schwängern. Sie sagte: Das ist vielleicht meine letzte Chance auf das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter.
    (Hinter der Wand hörten sie Heidis Mutter husten.)
    Fünf Tage später fanden Wlassows Späher das kleine Haus im Allgäu, in dem sich die Familie seines besten Freundes versteckte. Als Frau Strik-Strikfeldt durch den Spalt im Vorhang lugte, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sie hatte geglaubt, sie alle sicher untergebracht zu haben, hier im Herzen dieser letzten Insel des deutschen Sommers, wo die Nadelwälder ihre Schatten auf die gelbgrünen Bergwiesen warfen. Seit Jahren hatte sie ihren Gatten gewarnt, sich nicht mit Slawen einzulassen. Und nun dies. Lächelnd erschien unser knuffiger alter Balte in der Tür. Vergeblich streckte er die Hand aus. Er schluckte. Mit gequältem Lachen rief er: Wie das Glück sich doch immer wieder wendet! Manchmal bekommt man kaum noch Luft! Glauben Sie nicht, dass Ihr Leid mich nicht schmerzt. (Übrigens, Sie sollten sich mal rasieren.) Was kann man schon machen, wenn – da wir gerade beim Thema sind, neulich habe ich einen herrlichen Witz gehört. Was ist feige? Wenn sich einer von Berlin weg an die Ostfront meldet! Ha ha, ha ha ha ha!
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    Die große, bleiche Marionette ließ sich vor ihm auf einen Betonbrocken sinken. Sie pflückte einen Löwenzahn. Dann holte sie eine große Flasche Schnaps aus dem Rucksack. Sie verschloss die Flasche wieder, ohne ihm etwas anzubieten, erhob sich und sagte dann hölzern und förmlich: Deutschland ist zusammengebrochen – schneller, als ich es erwartete.
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    Aber, mein lieber Freund, der Führer hat uns die Wunderwaffen versprochen …
    Vergeben Sie mir, Wilfried Karlowitsch, aber ich … Wie dem auch sei, ich will es nicht an Ihnen auslassen. Ich gebe niemandem die Schuld. Wie sagt Heidi immer? Der Stärkste überlebt.
    (Er kannte seinen Heimweg noch: der Stacheldraht, die Wache, dann die Barrikaden und die geköpften Sandsackpyramiden an der Smolensker Straße, gefolgt von der Tür, die nicht richtig schloss, dem stockdunklen, eiskalten Treppenhaus, der Innentür, und dahinter eine Verzweiflung, die sich in ein Dunkel eingegraben hatte, das zu Kummer und Krankheit geronnen war, dort lag seine andere Frau, seine Redlichkeit, und wartete auf ihn.)
    Am 27.4.45 drängte ihn sein Kamerad Scherebkow, auf dem Luftweg nach Spanien zu fliehen, um seine Arbeit für die Befreiungsbewegung in geschützterer Umgebung fortzusetzen. Wlassow erwiderte, er wolle lieber das Schicksal seiner Soldaten teilen.
    Danach sehen wir ihn mitten im Aufstand von Prag, wo seine Befehle kaum hörbar von einem Feldtelefon übertragen werden. Am 8.5.45, als die Gerippe der Häuser zu Leiern wurden, auf denen das Feuer spielte, ging bei Wlassow ein dringendes Ersuchen des Tschechischen Nationalrats ein, das ihn bat, sich gegen die Faschisten zu wenden, aber als er die Bedingungen für ein Asyl nach dem Krieg aushandeln wollte, hieß es, man könne ihm keine Garantien geben. Am gleichen Tag gab er dem Drängen seiner Soldaten nach und wandte sich der anglo-amerikanischen Zone zu. (Sie flüsterte: Und dann kommst du zu mir nach Hause, Andrej …) Am 11.5.45 verlangte er, vor den Internationalen Gerichtshof gestellt zu werden, nicht vor ein sowjetisches Gericht. Tags darauf drang die Rote Armee in seinen Sektor vor. Er hängte seinen Patronengürtel über einen geborstenen Tragbalken und stellte sich unter den fadenscheinigen Schutz eines amerikanischen Konvois in Richtung

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