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erinnerte ihn an seinen Sohn Ernst, der inzwischen dreiundzwanzig war und in der 6. Armee diente; auch dessen Zwillingsbruder Friedrich diente Deutschland, aber in einer anderen Einheit.
8 Warum genau war Ernst ihm in den Sinn gekommen? Zu sagen, dass sie beide schwach waren, wäre nicht nett gewesen, und vielleicht war es nicht einmal Schwäche, sondern jene Art von Kummer, die ihr Geheimnis in sich verschließt. Ja, in unserer Wehrmacht ist es sogar oft so, dass die Soldaten, die am meisten jammern, die tapfersten sind, vielleicht weil der Tod eine Erlösung für sie wäre. Hoffentlich würde der Krieg vorüber sein, bevor Olgas Sohn einberufen werden konnte;
er war sehr intelligent, aber zart. Von irgendetwas verstört, einem Streit mit seinen Kameraden in der Hitlerjugend vielleicht (das war zum Glück eine andere Abteilung), kam das Kind in sein Arbeitszimmer gelaufen, was er ihm verboten hatte, aber da es so angestrengt versuchte, die Tränen zurückzuhalten, konnte Paulus nicht streng mit ihm sein. Nur zu gut erinnerte er sich noch an seine eigene Schulzeit. Auf dem Tisch aus Buchenholz befanden sich leider vier neue Aufnahmen der Luftaufklärung von Truppenmassierungen der Roten Armee, nebeneinander ausgelegt, die angenehm schwere und wunderbar scharfe Schneider-Lupe lag gerade auf Minsk, und das Umhängeband zog sich über halb Belorussland hin; und obwohl für das Zivilistenauge alle Luftaufnahmen gleich aussehen, besonders solche von Flachland, und obwohl die sowjetischen Divisionen nur mit römischen Ziffern gekennzeichnet waren, trug jede Fotografie unglücklicherweise den Stempel der Abteilung Fremde Luftwaffe Ost. – Ost!, schnaufte das altkluge Kind. Worum müssen wir uns denn im Osten Sorgen machen, Großvater? – Mit einem sanft tadelnden Lächeln gebot Paulus ihm, still zu sein. – Du weißt doch, diese Themen sind tabu, Robert, und du weißt auch warum. Nicht wahr? Nun, warum denn? – Weil – weil wir überall Feinde haben, Großvater. Deshalb … – Genau. Also, was hat jetzt diese Geschichte zu bedeuten, dass Heinz und Pauli dir einen Uniformknopf abgerissen haben? Du bist viel zu alt, um zu weinen …
9 – Er hatte angenommen, dass Robert, der mit solchen Dingen normalerweise gut umgehen konnte, niemandem davon erzählen würde, nicht einmal seiner Großmutter, die er vergötterte, und bei genauer Betrachtung war es vielleicht nicht einmal Roberts Schuld, dass Coca hinter das Geheimnis kam, denn er hatte schon bei verschiedenen Gelegenheiten Karten von Westrussland mitgebracht. In der Regel betrat Coca sein Arbeitszimmer aber nie unaufgefordert. Außerdem schloss er Geheimpapiere in seine Aktentasche ein, wenn er sie nicht gerade brauchte, und seine Aktentasche lag im Safe. Coca sagte nichts, bis Olga Robert abholen kam. Olga war ganz außer Atem und zappelig wie immer und schenkte ihnen zum Dank, dass sie auf Robert aufgepasst hatten, einen Kasten Veuve Clicquot, seine Lieblingsmarke. Er fand das übertrieben, bedankte sich aber, so höflich er konnte. Olga warf ihm einen verstohlenen Blick zu und erzählte, eine alte französische Dame habe ihr einen sehr guten Preis gemacht; dass ihre Mutter ihr perfektes Französisch beige
bracht habe, helfe offenbar sehr. – Zweifellos, sagte ihr Vater lächelnd. – Sie zupfte sich an den Augenbrauen und sagte, es sei überraschend, wie sehr man sich heutzutage in Paris zu Hause fühlen könne; alles werde germanisiert. Papa sei dort für viele ein Held, wegen seiner Rolle dabei. Coca nickte gleichgültig; sie wollte, dass Olga ging, damit sie sich streiten konnten; ihm war das völlig klar, aber Olga zum Glück nicht. Ein paar Läden seien natürlich geschlossen und das Victor-Hugo-Denkmal habe man eingeschmolzen, um Patronenhülsen daraus zu machen. Ob Mama das nicht traurig finde? Und Mama fand es traurig. Es sei heiß gewesen, aber irgendwie anders heiß als in Berlin, und die Baronin Hoyningen-Huene, der man ganz anders als Mama ihr Alter inzwischen wirklich ansehen könne, habe sich über die Schwergängigkeit der Fenster im Chalet beklagt; und ob es übrigens richtig gewesen sei, dass sie Papa die Replik der fränkischen Doppelaxt nicht gekauft habe? Normalerweise machten Olgas Besuche Spaß, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer noch ein wenig ein verwöhntes Kind war. Und weiß Gott, nichts konnte ihr Vater gerade besser gebrauchen als Belustigung; sein linker Mundwinkel hatte bereits zu lächeln begonnen, während sie noch
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