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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Deutschen haben für diese Truppenaufstellung den perfekten Begriff geprägt: Kessel. Darin wird der Feind jetzt weichgekocht. Wenn es sein muss, will sagen, wenn der Feind noch über die Fähigkeit zum Ausbruch verfügt, bauen wir aus noch mehr Soldaten einen inneren Ring auf, militärisch und ideologisch nach innen gerichtet. Ohne Nachschub muss der Feind krepieren. Jeder Koch weiß, dass Fleisch in kleineren Portionen schneller gar wird, also führen wir nun Speerspitzen aus Panzern und Infanterie ein, um den Kessel in voneinander abge
schiedene Sektionen zu unterteilen, mit aufgeschlitzten Häusern, um die Seelen der Menschen offenzulegen. Jeder dieser konzentrischen Angriffe, ob erfolgreich oder nicht, schlägt dem Feind weitere Wunden. Seine Männer hungern; er hat fast keine Munition mehr. Wir zerlegen ihn in seine kleinsten Einzelteile, die wir dann verschlingen. So die Ausgangsbasis für das Unternehmen Fischreiher.
    Auch wenn die Pfeile seines Vorstoßes so vollendet glänzten wie die Ströme von Panzermunition, die sich noch immer von den deutschen Fließbändern ergossen, lief nicht alles so rund wie sonst, vielleicht weil der Führer die Panzergrenadierdivision »Großdeutschland« an die Westfront verlegt hatte. Wohl deshalb dauerte es Tage, die Überreste der Roten zu eliminieren, die sich in einem Getreidesilo verschanzt hatten. Generalmajor Schmidt fragte sich laut, ob General von Wietersheim vor seiner Abberufung unter unseren Truppen Defätismus verbreitet habe. Paulus sagte ihm, vielleicht ein wenig zu scharf: Kümmern Sie sich lieber um unsere Nachschublage. Ich erwarte Ihren Bericht in einer Stunde. – Wenn er nur ihre Fährverbindungen unterbrechen könnte, das wäre die Entscheidung! Leider waren sie nachts in Betrieb, was es für die Luftflotte 4 sehr schwierig machte. Aber was war in Stalingrad schon die Nacht, wo der Himmel immer schwarz war, die Sonne dahin wie der letzte Sommer, schwarze Sonne, schwarzer Regen, mondlos schwarzer Himmel Tag und Nacht, wo alles hustete, das Rot der Brände auf der Wolga widerschien, während die Flugzeuge sich um Mitternacht auf die Fähren stürzten, Russen schrien, Deutsche fluchten, Sirenen schluchzten, wo Maschinengewehre den Sekundentakt angaben wie sonst das Metronom im Radio des belagerten Leningrad und lange Rohrkolben aus schwarzem Rauch so weich und flauschig in der Luft hingen wie die Federboa einer Operndiva?
    Fremde Heere Ost, Gruppe I , Heeresgruppe B fing wieder eine der mitternächtlichen Direktiven Stalins ab: Stalingrad soll um jeden Preis gehalten werden. (Stalingrad lag natürlich schon in Trümmern, genau wie der Warschauer Bahnhof in Leningrad.)
    Erst Luftangriffe, dann Bodenangriffe. Unsere Luftwaffe unterstützte ihn mit schweren Attacken auf die südliche Stadtmitte. Er dünnte die sowjetische 62. Armee auf ein Prozent ihrer ursprünglichen Stärke aus. Aber aus Kotelnikowo kamen immer neue feindliche Truppen heran.
    Wenn Sie gestatten, Herr Generalleutnant, wenn wir genau hier bei Pawlowsk-Serafimowitsch durchbrechen …
    Ja, erklärte er ihnen, aber leider haben sie da drüben hundertsechzigtausend Mann stehen. Das sind zwei Armeen, meine Herren!
    Herr Generalleutnant, sagte Schmidt, ich glaube, zwischen Kletskaja und Werkno-Kurmojarskaja …
    Anders als Feldmarschall von Rundstedt, der sich gerne einmal zum Spaß in die Uniform eines Obersten warf, achtete Paulus auf seine Würde. Er reagierte nicht immer auf ihre Vorschläge. So wie wir eine Straße am Tag einnahmen und die Russen sie nachts wieder zurückeroberten, so oszillierte der äußere Bereich seines Bewusstseins zwischen Enttäuschung und Zuversicht. Das Hochgefühl der Macht, das er zu Friedenszeiten nie erlebt hätte, der Macht zum Beispiel, ein paar Zeilen aufzusetzen und von der Ordonnanz auf einem Silbertablett forttragen zu lassen oder, in einem dringenden Fall, ein Dutzend Worte ins Feldtelefon zu sprechen und dann das Fernglas zu heben und mit eigenen Augen zu sehen, wie seine Worte in Kugeln und Bomben Gestalt annahmen – was er dabei empfand, hätte er nicht einmal Coca gestehen können, obwohl sie es erfahren würde, sobald sie wieder beieinander wären; sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Bis dahin befand er sich in völliger Übereinstimmung mit dem Satz des Feldmarschalls von Manstein, dass die Sicherheit eines schnellen Panzerverbandes, der sich im Rücken der feindlichen Front befindet, wesentlich darauf beruht, dass er in Bewegung bleibt.

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