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Bett kriechen; der Arme litt an Alpträumen. Einmal war das Kind sogar frühmorgens hereingekommen, als Coca und er miteinander schliefen; zuerst hatte keiner von beiden gemerkt, wie sich langsam die Tür öffnete; dann blickte das runde kleine Gesicht zu ihnen auf, klagend und verwirrt; Gott sei Dank hatten sie unter der Decke gelegen; die Erinnerung peinigte ihn. Und dann hatte er ein anderes Mal mit Coca geschlafen, und es war sehr schön gewesen; er hatte das Gefühl, ihr Stöhnen wäre ein Boot, das sie beide langsam einen breiten Fluss aus Sonnenlicht hinuntertrug; dann waren sie fertig, und Coca küsste ihn und weinte vor Glück; sie war eine sehr gefühlvolle Frau; er dagegen, von der extremen Klarheit erfasst, die einen Mann oft im ersten Augenblick nach einem Orgasmus ergreift, lag da und fixierte das Bücherregal, wo er das Wort ПОЛТАВА sah, Poltawa. Wie oft hatte er in jenen Jahren die Schrift auf diesem speziellen Band gelesen, ohne sich je die Mühe zu machen, ihn aufzuschlagen? Oft enthielten Bücher dieser Art Frontispize von alten Kriegen und dergleichen; es wäre eigentlich interessant gewesen, mehr über die Geschichte dieser Gegend zu lernen. Erst Invasionen, dann Aufstände; so viel hatte er auf der Offiziersschule gelernt. Während Coca ihm schläfrig die Brustwarze leckte, ihr langes weiches Haar über sie beide gebreitet, entzifferte er wieder: ПОЛТАВА. Und genau da öffnete sich still und leise die Tür: Ernst blickte durch den Spalt. Warum erinnerte er sich gerade jetzt daran? Jahrelang hatte er nicht mehr an diese Puschkin-Bände gedacht; wo hatte Coca sie versteckt? Es kam ihm vor, als sei in diesem einen Moment, als der kräftiger werdende Sonnenschein auf dieses spezielle Buch gefallen war, so viel geschehen, dass der Moment sich praktisch endlos dehnte; fast glaubte er, noch jede Strähne von Cocas Haar sehen und spüren zu können, das sie beide liebkost hatte, als Ernst sich hereinschlich; und nun, obwohl er diese Einzelheiten im Geiste mit einer wollüstigen Vollständigkeit durchstreifte, die sich dem Unendlichen näherte, spielte sich all dies in der kurzen Zeit ab, in der er sich die nächste Zigarette anzündete; dann kam die Ordonnanz mit dem spiegelblank
gewienerten Tablett, auf dem die Tagesberichte ausgelegt waren, zuerst der Feindlagebericht, dann der Signalaufklärungsbericht, beide von Gehlen, Fremde Heere Ost, Gruppe I , Heeresgruppe B; aber noch bevor er sich einem der beiden widmen konnte, brachte die Ordonnanz eine dechiffrierte Ankündigung vom OKW in Poltawa: Der Führer hatte beschlossen, ihm die 4. Panzerarmee zu entziehen, deren Unterstützung bisher seinen Blitzvormarsch stark erleichtert hatte. Offenbar hatte jemand das OKW überzeugt (er hoffte, dass es nicht der »nickende Arsch« gewesen war), die 4. Panzerarmee müsse an der gewaltigen Zangenbewegung vor Rostow teilnehmen. Diese Entscheidung beunruhigte Paulus; es war schon schlimm genug gewesen, die 1. Panzerarmee ziehen zu lassen; ohne deren Hilfe wäre es ihm wesentlich schwerer gefallen, den Landvorsprung von Barwenko abzuschneiden, und jetzt, mit verringerter Truppenstärke, würde sich alles noch länger hinziehen; aber Befehl war Befehl. Es gab Beschwerden seiner Offiziere; sogar Generalmajor Schmidt wirkte niedergeschlagen; aber er hatte beschlossen, alle so zu behandeln wie unsere rumänischen Verbündeten: mit Takt und Festigkeit. Er baute seinen Brückenkopf in Kalatsch aus, das ohne Schwierigkeiten eingenommen wurde. Der Führer war zufrieden; das schloss er aus General Warlimonts Funkspruch. Jetzt, da er einen Augenblick der Ruhe hatte, schickte er eine Nachricht der Freundschaft und des Mitgefühls an Feldmarschall von Bock, dessen Kommando nun Generaloberst von Weichs übertragen worden war; binnen zwei Stunden antwortete der Feldmarschall: Mein lieber Paulus, das Wichtigste ist, die Ruhe zu bewahren. Offenbar wollte man von Bock in die Führerreserve versetzen, Gott steh ihm bei. Müde und staubig von einem erneuten Frontbesuch schrieb er Olga eine kurze Nachricht, mit Grüßen an Enkel und Schwiegersohn; er riet ihr, den Mercedes lieber früher als später in die Inspektion zu bringen, für den Fall, dass es Schwierigkeiten mit der Beschaffung von Ersatzteilen gab. Dann widmete er sich wieder der Aufgabe, seine Speerspitzen aufzubauen und in Position zu bringen. Am 23.7.42 nahmen wir endlich Rostow ein, nachdem wir den grimmigen Widerstand des Feindes gebrochen hatten. (Auf
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