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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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beiden Seiten eines Fahrrades, an das Eimer voller Wasser gebunden worden waren, mühten sich alte russische Frauen mit Kopftüchern ab; langsam wankten sie durch den Vulkanstaub zwischen den Ruinen, dann verschwanden sie. Warum hatte ihr Oberkommando
sie nicht evakuiert? Diese Nachlässigkeit auf Seiten des Vorsitzenden Stalin schien den allgemeinen Gepflogenheiten bei humanitären Einsätzen nicht zu entsprechen.) Der Führer gratulierte uns allen zur erfolgreichen Umsetzung der Phase II von Fall Blau, er sagte Phase III ab und leitete die Unternehmen Edelweiß und Fischreiher ein. Das Unternehmen Fischreiher war ein Blitzangriff auf Stalingrad, damit betraut wurde Generalleutnant Paulus. Das Unternehmen Edelweiß bestand in der Fortsetzung unseres endlosen Vormarsches nach Südosten, dessenwegen Paulus nun befohlen wurde, auf fünfzig Prozent seiner Munition und fünfzig Prozent seines Treibstoffs zu verzichten. Egal: Panzergruppen würden ihm zu Hilfe kommen! Wessen Panzergruppen? Vermutlich die von Generaloberst Hoth. Er hatte vollstes Vertrauen in den Mann. Leider deutete die Luftaufklärung darauf hin, dass der Feind aus der Zeitverzögerung (von achtzehn Tagen) den größtmöglichen Vorteil zog und sich an der Wolga neu formierte, in jener Stadt namens Stalingrad.
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    Die Große Sowjetische Enzyklopädie lehrt uns, dass die Stadt Stalingrad, vormals Zarizyn, irgendwann im sechzehnten Jahrhundert auf einer Insel gegründet wurde, und nichts könnte passender sein als diese märchenhafte Absonderung und Einschließung. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, erfahren wir, war Zarizyn ein wichtiges Zentrum im Kampf des Volkes gegen die feudalistische Ausbeutung.
20 So weit, so gut; und es wird noch besser, denn im Bürgerkrieg fiel die Verteidigung dieses Ortes, neben anderen, Stalin persönlich zu, und der Gang der Dinge brachte es mit sich, dass die Bedeutung seiner dortigen Rolle im Rückblick wuchs, weshalb man die Stadt nach ihm benannte. – Die Streitkräfte Adolf Hitlers, die inzwischen zwei weitere russische Armeen zerschlagen hatten, näherten sich nun der Stadt Stalins. Und so kam alles, wie es kommen musste.
    6
    Generalleutnant Paulus war kein grausamer Mensch, was sich durch die Tatsache belegen lässt, dass die Sowjets ihm nie irgendwelche Kriegsverbrechen zur Last legten. Unmittelbar nachdem er die Nachfolge des verstorbenen Feldmarschalls von Reichenau als Befehlshaber der 6. Armee angetreten hatte, nahm er von Reichenaus Befehl vom 10.10.41, mit unnachgiebiger Härte gegen Untermenschen vorzugehen, zurück.
21 Dennoch schätzte Generalleutnant Paulus die Effektivität von Terrorangriffen: Durch sie wurde der Wille einer feindlichen Bevölkerung rascher gebrochen und damit der Krieg rascher beendet als mit anderen, angeblich milderen Mitteln. Anfang August stand er an der Donschleife im offenen Kampf mit der sowjetischen 1. und 4. Panzerarmee. Sein Vormarsch kam ins Stocken; besonders die sogenannten »Vernichtungsbataillone« machten ihm Kopfzerbrechen. Er mischte die Karten neu und stellte Regimenter um, schlaff hing die lange Hakenkreuzfahne über seinem Hauptquartier in Golubinskaja am Don.
22 Nicht zuletzt zahlenmäßig erwies der Feind sich als überlegen, so dass unser Führer Paulus wieder die 4. Panzerarmee zur Hilfe schickte; sie rückte wohlformiert von Kotelnikowo aus vor. Er setzte einen freundlichen Willkommensgruß an Generaloberst Hoth auf. Die Ordonnanz trat ein und füllte ihm das silberne Zigarettenetui. Es ging ihm nicht sehr gut; schon seit einigen Wochen quälte ihn die »russische Krankheit«. Egal; auch im letzten Krieg hatte er mit der Ruhr zu kämpfen gehabt. Coca erzählte er davon lieber nichts. Am 15.8.42 um 04:30 Uhr leitete er seine Offensive ein und zerschlug die sowjetische 4. Panzerarmee. Die Italiener schienen sich in leichter Unordnung zu befinden; er entsandte Generalleutnant Blumentritt, um sie neu aufzustellen. Er informierte das Hauptquartier über die Schwäche seiner nördlichen Flanke, erhielt aber den Befehl: Augen zu und durch! Das verletzte ihn ein wenig, aber er rief sich ins Gedächtnis, was Feldmarschall von Bock gesagt hätte: Das Wichtigste ist, die Ruhe zu bewahren. Erst Bach, dann Mozart. Coca hatte Mozarts Opern lieber; er zog die Instrumentalmusik vor. Am 22.8.42 kam er mit seinen Offizieren in den Genuss eines Augenblicks der Heiterkeit, als im Radio die Kriegserklärung Brasiliens an das Reich gemeldet wurde; jemand merkte an,

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