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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sich
seinem Namensvetter immer näher gefühlt als Ernst, der in der Schule in diese oder jene dumme Sache verwickelt gewesen war; er hatte oft streng mit ihm sein und ihn mahnen müssen: Du bist der Sohn eines deutschen Offiziers! – Dennoch, oder gerade deshalb, war es Ernst, an den er jetzt dachte. In diesem Augenblick kam ihm das Tableau in der Signal weder gefühlig noch falsch vor. Er glaubte daran.
    Da fing der Fernschreiber an zu schnattern. Man schrieb den 30.1.43. Der Anführer eines Sturmtrupps kam mit blaugefrorenem Gesicht herüber und wollte sehen, was er wohl befahl. Dann stand er mit offenem Mund da.
    Unser Führer hatte Paulus zum Feldmarschall befördert.
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    Das war also der Höhepunkt, der persönliche Sieg, den Coca sich immer für ihn gewünscht hatte. Sie hatte nie viel von ihm verlangt; schließlich weiß jede Soldatenfrau, dass sie sehr wahrscheinlich wie eine Witwe leben würde, ob ihr Mann nun fiel oder nicht. Sie hatte ihn geliebt, ihn unterstützt, sein Fortbleiben ertragen, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Jetzt wurden sie alt, und wie viele Nächte hatte er in den einunddreißig Jahren ihrer Ehe an ihrer Seite verbracht? Und alles, was sie für ihre Loyalität je verlangt hatte, waren ein paar Beweise des Erfolgs, öffentliche Ehrungen, auf die sie stolz sein konnte. Auf gewisse Weise hatte er alles, was er in Russland getan hatte, für sie getan. Er hätte natürlich auch zu Hause bei ihr bleiben können, aber hätte sie das von ihm erwartet? Wenn er die frischen weißen Handschuhe überstreifte, sich eine Zigarette anzündete und sich über eine Karte beugte, dann konnte er sein Bestes geben; und so bedauerlich es auch war, dass er in der Ferne weilte, seine vollkommene Liebe zu ihr konnte das nicht überschatten. Er fragte sich, ob man sie informiert hatte. Er konnte sie im Wohnzimmer sitzen sehen, den Blick auf den Kaminsims, wo der Marschallstab seinen Platz finden würde. Natürlich gleich neben der silbergerahmten Fotografie, auf der er sich aufmerksam zu Generaloberst von Reichenau beugte, der am 28.5.40 bei Entgegennahme der Kapitulation des Königs von Belgien noch kein Feldmarschall gewesen war; der Pangermanismus hatte doch noch gesiegt. Dann gab es da Nachbildungen seiner Eisernen Kreuze aus dem letzten Krieg, Erster und Zwei
ter Klasse; dann die kleine, ebenfalls silbergerahmte Fotografie, die ihn und Coca und die Kinder zeigte, als sie alle viel jünger waren, alle scharf abgebildet außer Ernst, der wie immer zappelte und den Kopf abwandte; warum hatte Coca das Bild gerahmt? Etwas daran musste ihr gefallen haben, und schließlich war es besser, sich mit Coca nicht zu streiten. Oh, aber damals war sie so wunderwunderschön gewesen! Natürlich war sie noch immer schön, aber die junge Dame, die er im Jahr 1912 geheiratet hatte, war unbeschreiblich vollendet gewesen, unter ihren Locken – eine exotisch angehauchte Frisur, die sie aufgab, als Friedrich und Ernst geboren wurden – strahlte ihr weißes Gesicht freundlich in die Welt. Von dem Augenblick an, als ihre Brüder sie ihm vorgestellt hatten, leuchtete sie über ihm, strahlend hell. Er hätte die Welt für sie in Brand gesetzt. Diese Aufnahme war 1920 entstanden, kurz nach dem Kapp-Putsch, den er damals so leidenschaftlich unterstützt hatte und an den sich heute niemand mehr auch nur erinnerte. Und alle drei Kinder waren erwachsen und aus dem Haus. Heute färbte sich Coca bestimmt die Haare, auch wenn er sie nie dabei erwischt hatte. Ach, ihr dunstiger und goldener Sommer, wohin war er entschwunden?
    Er stellte sich in Positur, um die gemurmelten Glückwünsche seiner Männer mit ihren Erfrierungen und Verbänden entgegenzunehmen. Und da kroch ihm langsam wie ein humpelnder Mann ein Gedanke in den Schädel – war es überhaupt ein Gedanke? Es war einfach das, was man immer gesagt hatte: Kein deutscher Feldmarschall ist in der Geschichte je lebend dem Feind in die Hände gefallen.
    27
    War der Preis seines Triumphs wirklich, eine jener Leichen zu werden, deren Fleisch so vollkommen weiß war wie die Mauern der Kaserne von Chemnitz?
    Er zog sich seine frischen weißen Handschuhe an und dachte: Man sollte sich bis zum Schluss professionell verhalten.
    Im Paulus' Sprache, dem Deutschen, kann man statt Selbstmord auch »Freitod« sagen.
    Würde man ihn nach alldem gefangen nehmen, wäre das für das Reich natürlich eine große Enttäuschung.
    Und für Coca natürlich auch …
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    Sie war die Frau eines deutschen

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