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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Handschuhe schmutzig. Er starrte an die Wand.
    Zuerst wollten sie wissen, warum Hitler ihn nicht hatte ausfliegen
lassen. Sie würden keinen ihrer Leute jemals der Gnade des Feindes überlassen haben, sagten sie.
    Sie haben wohl General Wlassow vergessen, sagte er. Er arbeitet seit dem vergangenen Juli mit uns zusammen.
    Diese Laus!
    Sie werden ihn besser kennen als ich, sagte er.
    Jedenfalls haben Sie uns noch immer nicht erklärt, warum Ihr sogenannter »Führer« Sie im Stich gelassen hat.
    In unserer Wehrmacht ist es Tradition, erklärte er geduldig, dass der befehlshabende Offizier das Schicksal seiner Truppe teilt.
    Nun, danke für diese erbauliche Lektion, Herr Feldmarschall! Und auch auf einem anderen Gebiet schulden wir Ihnen Dank. Wir haben Ihnen hier an den Ufern der Wolga eine gründliche und unbezahlbare Erfahrung mit dem deutschen Abwehrkampf zu verdanken; sie können sich darauf verlassen, dass wir sie weiter nutzen werden!
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    Er merkte, dass sie sich über ihn lustig machten (er hatte nichts anderes erwartet) und schwieg.
    Sie verlangten, dass er den Rest seiner Armee zur Kapitulation aufforderte.
    Gelassen erwiderte er: Das wäre keine soldatische Haltung!
82 Sie lachten ihr hässliches russisches Lachen, und einer von ihnen, ein besonders bösartiger Slawe, der aussah, als wollte er Paulus ins Gesicht spucken, konnte nicht aufhören, breit zu grinsen. Seine Zähne waren braun-gelb gefleckt wie eine Judenleiche. Und dann wollte dieser Slawe wissen: Wie können Sie sagen, es gehöre sich nicht für einen Soldaten, das Leben seiner Untergebenen zu retten, nachdem Sie selbst sich ergeben haben?
    Ich habe mich nicht ergeben. Ich wurde überrascht.
    Ach so. Jedenfalls, es geht uns um einen humanitären Akt.
    Selbst wenn ich einen solchen Befehl unterzeichnen würde, meine Soldaten würden ihm nicht gehorchen. Wenn ich mich ergeben habe, dann bin ich automatisch nicht mehr ihr Befehlshaber.
    Was für eine Logik, Herr Generalfeldmarschall!
    Sie waren genau so, wie sie ihm in seinen Alpträumen erschienen waren: dreist, bedrohlich, Argumenten unzugänglich. (Wir finden schon einen Weg, mit ihm fertig zu werden, sagte der Genosse Stalin.) Einer von ihnen, ein eher kläglicher, kleiner Typ, kam ihm seltsam bekannt
vor. Gerade weil das deutsche Gesicht dünnhäutiger und ausdrucksvoller ist als das slawische, konnte Paulus nicht anders, sein Innerstes kam zum Vorschein, seine tiefsten Ängste, sein alter Drang, den äußeren Schein zu wahren. Und er verstand nur zu gut, dass er seinen Schmerz von diesem Augenblick an bis in alle Ewigkeit würde verbergen müssen, wenn er sich treu bleiben wollte; dass er statt seiner weißen Handschuhe nun nur noch eine steinerne Miene würde anlegen können; er würde gefrieren; er würde sich abhärten; er würde nichts von sich preisgeben. Paulus wünschte, er hätte die finale Erwartung des Führers erfüllt, und sagte ihnen: Ich kann meine Weigerung nur wiederholen.
    Dann kann ich Ihnen nur sagen, Herr Generalfeldmarschall, dass Sie mit Ihrer Weigerung, das Leben Ihrer Soldaten zu retten, vor dem deutschen Volk und seiner Zukunft eine schwere Verantwortung auf sich nehmen.
    Er wandte den Blick erneut zur Wand und wurde wieder so steif und stumm wie eine Leiche in elektrisch geladenem Stacheldraht.
    Die Truppen, die noch im Nordkessel aushielten ( XI . Korps), ergaben sich natürlich auch so, am 2.2.43; und schon sehen wir ihre von Frostbeulen gezeichneten Horden, mit versteinerter Miene oder einem scheuen oder verzweifelten Lächeln für die sowjetischen Supermänner in Weiß, die sie eiligst nach Sibirien schaffen und die Nachzügler links und rechts erschießen. Jahrelang würden lange, dunkle Doppelreihen in den Trümmern Stalingrads arbeiten. Bald würden sie hervorragende Totengräber sein. Fast alle würden sie an der Kälte sterben, an Hunger, Typhus, Vernachlässigung und Grausamkeit. (Einen gewissen Schmundt, der Paulus immer geraten hatte: Wir müssen fanatischer werden!, habe ich ganz aus den Augen verloren. Generalmajor Schmidt blieb unserem Führer jedenfalls bis ans Ende treu, weshalb man ihn zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager verurteilte.) Wenn es überhaupt etwas gab, worauf sie sich freuen konnten, dann vielleicht das forsche, autoritäre, dabei nicht völlig mitleidlose Verhalten der slawischen Frau, besonders der Frau vom Amt. Selbst Paulus schlug die Hacken zusammen und küsste der Frau Doktor die Hand. (Der Sozialismus würde all diese nationalen

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