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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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stand außer Frage. Wie konnte es jetzt noch Entsatz ge
ben? Feldmarschall von Manstein hatte ihm gegenüber angedeutet, dass der 6. Armee selbst dann noch eine welthistorische Rolle zufiel, wenn ihre Lage sich auf lange Sicht als hoffnungslos erweisen sollte: die Kräfte der Roten Armee so lange wie möglich zu binden, was der Heeresgruppe Süd Zeit genug verschaffen könnte, in Südostrussland ihre Verteidigung zu verstärken. Was das Unternehmen Donnerschlag anging, machte er sich kaum noch Hoffnungen.
    Am 15.1.43, als die Nachricht eintraf, dass der Feind unseren Belagerungsring um das ferne Leningrad gebrochen hatte, verfiel Paulus in Schweigen. Mit seinem Adjutanten Oberst Adam wagte er sich aus seinem Hauptquartier heraus, und gemeinsam schritten sie die ausgedehnten Schuttfelder des Roten Platzes ab. Paulus drehte sich gelegentlich um und blickte zurück, dorthin, wo sie herkamen und wo noch immer die Hakenkreuzfahne von der geschwungenen Brüstung des verkohlten Balkons flatterte und die bibbernde Wache stand (194. Grenadiere). – Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Generaloberst? – Paulus antwortete nicht. Sie kletterten in einem halb zerstörten Wohnblock aufwärts, bis es zu gefährlich wurde. (Hatten wir ihn zerstört oder sie?) Und dann hob Paulus seinen Feldstecher an die Augen und nahm die Südwestfront ins Visier, wo alles ruhig war. Auf dem Rollfeld schippten drei Soldaten, die er nicht kannte, Schnee. – In Leningrad ist also alles vorbei, nach neunhundert Tagen steten Bemühens. Wissen Sie, Adam, irgendwie kann ich jetzt klarer denken. – Ja, Herr Generaloberst … – Paulus winkte ungeduldig ab und sie kehrten schweigend ins Kaufhaus Uniwermag zurück. Noch am gleichen Tag zerschlugen die Russen in seinem eigenen Frontabschnitt die ungarische 2. Armee. Als wäre es zum ersten Mal, flüsterten seine Stabsoffiziere, die 6. Armee solle sich wirklich den Weg freikämpfen … – Paulus erhob sich, totenbleich und sagte in die Runde: Ich verlange von Ihnen als Soldat, dass Sie die Befehle Ihrer Vorgesetzten ausführen. Also kann und muss der Führer als mein Vorgesetzter auch von mir verlangen, dass ich seine Befehle ausführe.
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    Im Rückblick können wir nicht wirklich behaupten, dass er so tapfer und inspirierend gewesen wäre wie Feldmarschall Model oder dass er die Russen aufgehalten hätte wie Feldmarschall von Küchler oder dass ihn die Mischung aus Entschlossenheit und Glück ausgezeichnet hätte, wie Feldmarschall Rommel sie für eine Weile besaß; dass er so grausam
gewesen wäre wie Feldmarschall Schörner, so diensteifrig und beflissen wie Feldmarschall Keitel, so effektiv wie Feldmarschall von Reichenau (der das Glück hatte zu sterben, bevor die Alliierten ihn aufhängen konnten), anständig bis zum Verrat wie Feldmarschall von Witzleben (den unser Führer dafür aufhängen ließ), so abgehoben wie Feldmarschall von Leeb, in Defensivoperationen bewandert wie Feldmarschall von Kleist. Wie also war er? Ich sehe in ihm die zentrale Figur einer Parabel, daher gegen seinen Willen zur Apathie verdammt; in seinem langen Ledermantel, seinen Handschuhen, mit seinem noch immer makellosen weißen Kragen, seiner strahlenden Loyalität, wurde er in die Geschichte unseres Reiches eingeführt, um ein Prinzip zu bebildern, eine Funktion zu erfüllen, um zu denken und zu leiden, während ihm Dinge angetan wurden. (Wie beziffern Sie Ihre operative Stärke?, fragte er General von Hartmann, der erwiderte: Zählen Sie die Kreuze in Gumrak, Herr Generaloberst.) Wir Nationalsozialisten wissen, dass Angriff die beste Verteidigung ist; aber dem Generaloberst waren nicht die Kräfte und die Mobilität bewilligt worden, diese Losung umzusetzen. Er war nur ein Spielkartensoldat, eine Figur in einem Buch. Er saß ganz still in seinem Zelt und hörte Beethoven auf dem Grammophon; seine Handschuhe waren schon wieder schmutzig geworden. Ob er schon eine Vorahnung hatte, was er würde erleiden müssen? Vermutlich, denn mehr als ein Mann hat ihn sagen hören: Ich weiß, die Kriegsgeschichte hat schon jetzt das Urteil über mich gesprochen …
65  – Stalingrad würde man »den Wendepunkt« nennen. Nach Stalingrad und als Folge Stalingrads würde die Herrscherrolle in Mitteleuropa von Deutschland auf Russland übergehen. Und alles seinetwegen! Hätte er doch nur … – oder hätte die Rote Armee doch nur zufällig … – Daher lässt sich die Schuld am Untergang unseres Reiches dem Generaloberst

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