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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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daran, wie General Timoschenko im Jahr '39, als die Russen in Polen einmarschiert waren, um sich ihre Hälfte des Landes zu nehmen, also in der guten alten Zeit, als wir noch Freunde waren, die polnischen Soldaten per Proklamation dazu aufgerufen hatte, ihre Offiziere umzubringen. Stellen Sie sich mal vor, was die Russen uns antun würden, sagte Generalmajor Schmidt.
    Sie blickten einander an und spekulierten.
    Paulus seinerseits erinnerte sich an einen Vorfall aus der Zeit, als Feldmarschall von Reichenau noch am Leben gewesen war.
    Im Monat 7/41 war die 6. Armee in Schitomir stationiert gewesen, wo der Jude Isaak Babel mit seinen Glaubensbrüdern um die Ethik der kommunistischen Revolution gestritten hatte, während er sich Notizen für seine entsetzlichen Geschichten von der »Reiterarmee« machte; 1940 wurde er dann von eben jener Revolution erschossen; in Schitomir war es, dass wir, auf dem Höhepunkt dieses ersten Sommers voller Äpfel und Kirschen und Leichen, die die Flüsse hinabtrieben, auf Befehl des Feldmarschalls von Reichenau einen sowjetischen Richter hängten und uns der Juden entledigten, in großen Schüben, weil alles nur eine Frage der Zeit und der Kampfkraft war, ein Scharfschütze für jeden Juden, das Ganze vierhundert Mal; es waren unfähige Scharfschützen darunter, nervöse Anfänger also, das Unternehmen Barbarossa hatte erst vor einem Monat begonnen: Entweder weigerten die Juden sich, auf der Stelle zu sterben, oder sie spritzten das Exekutionskommando mit ihrer Hirnmasse voll, was passieren kann, wenn man auf zu kurze Distanz arbeitet. ( Ich bin glücklich, hatte Babel in sein Tagebuch geschrieben, riesengroße Gesichter, Hakennasen, schwarze, grau durchwirkte Bärte, ich denke an vieles, auf Wiedersehen, ihr Toten. Man schrieb das Jahr 1920.)
73 Im Monat darauf, unser deutscher Sommer war noch immer heiß und golden, stand unsere 6. Armee in Kiew, und nachdem wieder ein paar hundert erwachsene Juden ausgeschaltet worden waren, ließ man ihren Nachwuchs, zirka neunzig an der Zahl, noch ein oder zwei Tage lang am Leben: wieder diese Zimperlichkeit! Einige unserer Soldaten beschwerten sich, weil man den Kindern nichts zu essen und zu trinken
gab (das Schreien der Babys war besonders störend), und schließlich mischten sich zwei Militärgeistliche ein. In ihrem Bericht wurden diese unvermeidlichen Operationen tatsächlich mit den Gräueltaten des Feindes gleichgesetzt. Feldmarschall von Reichenau, wie immer empört über die Einmischung von außen, erklärte in einem Memorandum in dreifacher Ausfertigung für das Hauptquartier: Grundsätzlich habe ich entschieden, daß die einmal begonnene Aktion in zweckmäßiger Weise durchgeführt sei. Der fragliche Bericht ist unrichtig und im höchsten Maße ungehörig und unzweckmäßig. Außerdem war er unverschlossen und ist durch viele Hände gegangen. Der Bericht wäre überhaupt besser unterblieben.
74 Das war der kritische Augenblick gewesen, an dem Paulus aus dem OKW zur Inspektion der 6. Armee eingeflogen war. Coca hatte er eine kleine Lüge erzählt; er hatte gesagt, er sei wegen der Ruhr, der »russischen Krankheit«, bei seiner Rückkehr so totenbleich gewesen. Seitdem hatte er versucht, nie wieder an die antijüdischen Maßnahmen zu denken.
    Aber diese Maßnahmen, mit denen er nichts zu tun hatte – er nahm die entsprechenden Befehle sogar zurück, als er das Kommando übernahm –, konnten ihm sehr wohl angehängt werden. Natürlich waren die Feinde alle Juden. Bestimmt würden sie Rache üben wollen. Auch er beschloss, sich nicht lebend gefangen nehmen zu lassen.
    25
    Er saß da und las ganz langsam in einer alten Signal -Ausgabe, die mit wer weiß welcher Postlieferung gekommen war, vermutlich im Herbst. Das russische Mörserfeuer schmerzte ihm in den Ohren. Seine Stirn war verbunden; wie auch Oberst Adam hatte er beim letzten Luftangriff Kopfverletzungen davongetragen. Auf einem ganzseitigen Foto steckten ein Mann und ein Junge die rotblonden Köpfe zusammen und bewunderten ein rotes Modell-U-Boot, geschmückt mit der Hakenkreuzfahne unseres Reichs, der Mann hielt das Spielzeug im Arm (er trug ein Eisernes Kreuz erster Klasse), der Junge lächelte selig mit halboffenem Mund. Der Mann war ein Admiral, dem Paulus vor einigen Jahren privat begegnet war, bei einem Jagdgelage bei Göring. Trotzdem erinnerte er Paulus an sich selbst, und der Junge erinnerte ihn an Ernst. Obwohl Ernst und Friedlich Zwillinge waren, hatte Paulus

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