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eigenen Augen gesehen, dass Jesus in Jerusalem zwei Grabmäler hat. Kriechpflanzen und Glyzinien überwucherten sein Grab, dann brachen im Triumph orangerote Vogelbeeren hervor. Er war der letzte Feldmarschall. Kein Mausoleum hatte man ihm eingerichtet: weder Gruft noch Säule, keine Adler aus Granit, keine traurigen, verrußten Ritter, die steinernes Gewürm abstechen. Aber er schied froh; sie hatten ihm den schiefergedeckten Himmel eines sächsischen Sommers bewilligt, verträumte Lichtspiele in den Lindenzweigen, Wolken, die Regen ausschwitzten. Sie hatten ihm das Haus gegeben, das aussah wie ein Versuch, aus planen Flächen eine Frauenbrust zu bauen. Später wurde es von der Stasi übernommen, zur Förderung der demokratischen Polizeimacht.
Im Jahr 1960, als Schostakowitsch Dresden besuchte und, offenbar bedrängt von dem geheimnisvoll verträumten Wald, der ihn umgab, sein unseliges Opus 110 komponierte, erblickten Paulus' Lebenserinnerungen Ich stehe hier auf Befehl das Licht der Welt; aber inzwischen hatte Liddell Hart schon The German Generals Talk veröffentlicht, also wurde diesem zweitrangigen Wiederaufguss, der schließlich nicht mehr war als die Selbstrechtfertigung eines Buchhaltersohnes, nicht mehr viel Aufmerksamkeit zuteil. Im Kalten Krieg war Stalingrad inzwischen allen Beteiligten peinlich. Trotzdem räumten manche unter den Siegern ein, dass Paulus bei gewissen taktischen Operationen gar nicht so schlecht gewesen sei, sobald Panzer im Spiel waren. Sein Sohn hob diese verschiedenen Verteidigungsschriften sorgfältig auf, überarbeitete sie und führte sie weiter aus. Aber die Ahorn- und Lindenbäume Dresdens überwucherten das Andenken des Vaters wie Monumente.
Erst der Wille, dann die Tat: Im Jahr 1970, als in den Stalingrader Traktorenwerken (die nun Wolgograder Traktorenwerke hießen) der einmillionste Panzer vom Band lief, folgte Ernst Paulus endlich dem Wunsch unseres Führers und blies sich in einem Schauer aus Purpurrot und Grau die Schädeldecke weg. Das Letzte, was er an jenem schwarzen Tag sah, so kam es ihm wenigstens vor, war eine Armee aus weißen Skeletten.
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[ 35 ] Er hielt sein Versprechen so gründlich wie all die anderen. Am 1.2.43, also dem Tag nach der Kapitulation von General Paulus, erlangten die Generäle von Weichs, von Kleist und Busch dieselbe Würde. Am 1.3.44 wurde »Hitlers Feuerwehr«, der tapfere General Model, erhoben, in Anerkennung seiner herausragenden Leistungen in der Verteidigung, die uns Zeit verschafften, um die ungarischen Juden zu vergasen. Der wirklich letzte Feldmarschall war Schörner (5.4.45), ein Mann, der in seiner lobenswert hysterischen Brutalität mit den Defätisten des deutschen Generalstabes gern so verfahren wäre, wie er bereits mit den russischen Zivilisten verfahren war; es scheint mehr als angemessen, dass er seinen Marschallstab aus den Händen des Führers persönlich entgegennahm.
Soja
Grundsätzlich ist bei der Bandenbekämpfung – das muss man jedem einhämmern – das richtig, was zum Erfolg führt.
– Adolf Hitler (1942)
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Sojas Geschichte hat keinen Anfang. Sie wird ganz von ihrem Ende bestimmt, das sich im Westen von Moskau vollzieht, nicht weit vor der Stadt, in einem Dorf namens Petrischtschewo. Rückwärts in die Zeit, durch vorhersehbare und möglicherweise trügerische Schatten hindurch, wirft die Erzählung ein Licht auf das sonnenbeschienene Vorkriegsleben im Kollektiv, für das Soja ihr Leben hinzugeben beschloss. Aber was, wenn der Beschluss nicht ihr eigener war? Dem Verbrechen, für das die Faschisten sie verurteilten – das Anzünden eines Pferdestalls, ganz nach der Strategie der Verbrannten Erde des Genossen Stalin –, wären sicher größere Angriffe gefolgt, wenn das Glück auf ihrer Seite gewesen wäre. Kurz gesagt, Soja wollte nicht sterben – jedenfalls da noch nicht, nicht für einen Pferdestall! Aber dann wiederum, wie vielen Menschen ist es gegeben, überhaupt diese Rechnung aufzumachen, geschweige denn den Schluss zu ziehen: Mein Tod ist für dieses Ziel ein fairer Preis? Die Verschwörer des 20. Juli wären vielleicht zufrieden gewesen, hätte ihr Anschlagplan auf Hitler Erfolg gehabt. Das hatte er nicht, und sie wurden an Klaviersaiten aufgehängt. General Wlassow, der erst gegen Hitler, dann gegen Stalin kämpfte, fand ein ähnliches Ende. Hatte es sich »gelohnt«? Was war mit den Berlinern und Leningradern, die bei Luftangriffen ums Leben kamen, oder den Soldaten, die auf beiden
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