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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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willst, kannst du es haben, sagte der Vater mit einem schmalen Lächeln. Ich habe es in einen Brief an deine Mutter gesteckt, kurz bevor wir das Rollfeld von Stalingradski verloren haben. Sie hat es bestimmt bis zum Schluss aufbewahrt. Ich habe ihr auch … – Ach, deshalb trägst du deinen Ehering nicht mehr, sagte Ernst unsagbar verbittert. So einen Brief hat Mama nie bekommen. – Steif saß Paulus da, seine linke Gesichtshälfte zuckte wie ein schlagendes Herz. Ein anderes Mal brachte Ernst ihm, um ihn zu quälen vielleicht, so vermutete er jedenfalls, und es war ihm schleierhaft, wo er sie in diesen Zeiten aufgetrieben hatte, eine Kopie des Testaments des Führers mit, worauf sie in der Villa hinter verschlossenen Türen beieinander saßen, rauchten und die Wand anstarrten, der letzte Feldmarschall und der Hauptsturmführer a. D., zu Beethoven vom Grammophon, das Dokument zwischen sich:
Als Ernst wieder nach Westdeutschland abgereist war, zerriss und verbrannte er es.
92 Der lila-weiße Klee, der jeden Frühling blühte, war ihm sehr lieb geworden. Erst der Klee, dann der Duft nach Bäumen und Laub; Baum des Monats Juli war die leuchtende Vogelbeere; vom Balkon seines schiffsbauchigen Hauses aus behielt er immer im Blick, wie weit unten in der dunklen Klamm der Sommer fortgeschritten war. Im Winter hörte er auf dem Grammophon Beethoven, nicht Schostakowitsch. Niemand fragte je nach seiner Adresse; für den Fall der Fälle hatte er die Antwort parat: Lausitzer Straße. Erst rechts, dann links – und dann immer links geradeaus bis zum Ende. Als Hilde Benjamin, die den Spitznamen »Rote Guillotine« trug, Justizministerin wurde, entschied sie ganz korrekt, ihn zu behalten und sogar zu befördern, denn Friedrich Paulus war ein korrekter Untergebener.
93  – Man muss wie eine Spinne im Netz auf der Hut sein, hatte der Führer immer gesagt, Paulus starr angeblickt dabei und in seinem Gesicht nach Spuren des Bösen gesucht. – Gott sei Dank habe ich bisher eine gute Nase gehabt. Ich rieche den Braten immer schon vorher …
94  – Die Rote Guillotine hatte eine ähnlich gute Nase. Sie war ein grauhaariger Kobold mit Tränensäcken unter den Augen – kein richtiger Hingucker, fanden ihre männlichen Kollegen, aber im Jahre 45 wäre sie noch immer gut genug für ein paar Dutzend Russenjungs gewesen. Volkspolizeioffizier Paulus ließ sich zu solchen Scherzen natürlich nie hinreißen. Auch die anderen Polizisten ließen in seiner Gegenwart keine Bemerkungen fallen; sie fühlten sich unbehaglich in seiner Anwesenheit; nicht, dass sie ihm nicht trauten (er war schon lange kaltgestellt und harmlos), aber sie wussten ihn nicht zu nehmen. Warum nahm er zum Beispiel als Zuschauer nicht nur pünktlichst an den Militärparaden teil, bei denen man ihn erwarten würde, sondern auch an allen anderen Veranstaltungen, bis hin zu den nervtötendsten Anlässen zur Feier der Arbeiterklasse, die selbst Stasileute zum Gähnen brachten? Da stand er, ganz allein, und sah ihnen beim Marschieren unter Dresdens halb zerstörten kup
fergrünen Kuppeln und Türmen zu. Ihm fehlte, was ein weit fähigerer Feldmarschall (ich meine von Manstein, der gerade im Gefängnis saß) geradezu verkörperte; er nannte es bescheiden »preußische Erziehung«, als handele es sich nur um ein Verfahren, dem er folgte, ohne dafür besondere Anerkennung zu verdienen;
95 kurz, von Manstein war ein Offizier, der wusste, wie man seinen Männern nahe war. Hielt dieser Polizeioffizier Paulus sich für etwas Besseres als seine Kollegen? Egal. Manchmal besuchte die Rote Guillotine in ihrem glänzenden schwarzen Wagen ohne Vorankündigung Dresden, und dann schaute sie unweigerlich in Paulus' ordentlichem kleinen Büro vorbei, wo in einer Reihe die Porträts von Marx, Lenin und Stalin hingen, und blickte ihn an, einfach so, als hätte er einen Fleck auf der Weste, worauf er den Kopf von seinen Akten hob und ihren Blick erwiderte, ohne Trotz oder gar Leere; er war zu allem bereit. Dann fuhr sie wieder nach Berlin. Es war, als wäre sie von ihm fasziniert. Oft lobte sie die Klarheit und Vollständigkeit seiner Berichte, und warum auch nicht? Er hatte eindeutig alles gründlich durchdacht; seine Logik war so streng wie die Lösung eines Problems der Kristallchemie. Das muss es gewesen sein, weshalb seine Vorkriegsverbindungen zu Cocas adligen Freunden nie zum Problem für ihn wurden: die zu Graf Zubow, Baronin Hoyningen-Huene, dem Prinzen und der Prinzessin im

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