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beiden Männer hatten ihre Erörterung der feindlichen Aufstellung abgeschlossen. Nun drehte ihr Gespräch sich um Soja.
Was sie ihr angetan haben, wird uns anstacheln, morgen noch entschlossener zu kämpfen, ganz bestimmt, Genosse General.
Sie würden also sagen, dass sie sich ausgezeichnet hat?
Eine Nationalheldin ist sie!
Und gerade das ist seltsam. Warum sollten uns die Faschisten denn eine Nationalheldin schenken wollen?
Schweigend kehrten sie ins Lager zurück. Wlassow dachte noch über die beste Aufstellung seiner dreihundertundelf Mörser und schweren Geschütze nach.
3 Vor vielen Jahren, im Jahr 1936, hatte er einen Vortrag des verstorbenen Marschalls Tuchatschewski besucht, der dabei den Satz prägte, der nächste Krieg werde von Panzern und Luftwaffe ent
schieden werden.
4 Er hatte recht, und Wlassow besaß keines von beidem. Was konnte er anderes tun, als seine Männer zu verbrauchen wie Munition?
Seine Sibirer wachsten ihre Skier mit Wachs aus geplünderten, halb verbrannten Bienenstöcken. Den Honig hatten sie bis zum letzten Tropfen aus den Waben gekaut. Die Männer mit den Panzerbüchsen aus den Sturmbrigaden ölten ein letztes Mal ihre Waffen, und zwei zarte Jungen sangen laut in gespielter Tapferkeit: In die Schlacht für unser Land, in die Schlacht für unsern Stalin.
5 Im Radio drohten Beria und Schukow allen besiegten Generälen mit dem Tod. Am eingefallenen Lagerfeuer im Schnee kritzelte der Kommissar eine Rede zum Thema Soja hin, die alle an das Ziel der Partisanentätigkeit erinnern sollte: etwas zu tun, was es auch war, um die Verlagerung feindlicher Reserven an die Front zu behindern. Nach diesem eher weit gefassten Kriterium war das Mädchen erfolgreich gewesen; und die unruhigen Truppen, die etwas brauchten, woran sie glauben konnten, würde das zum Nacheifern anregen. Er wusste, dass der Tod keines einzigen Sowjetsoldaten umsonst war! Wer bin ich, ihn dumm, zynisch, unbelehrbar zu nennen? Die meisten von Wlassows Männern würden fallen oder in den deutschen Gefangenenlagern enden, wo sie sich darauf freuen durften, als Futter für Experimente mit vergifteter Munition, Zyklon B, Dekompression oder Kälte zu dienen. (Für tote russische Häftlinge musste man keinen Totenschein ausstellen.) Nun, wenn ihre Ermordung bedeutete, dass ein paar tausend Faschisten davon abgehalten wurden, die Front zu bemannen, dann hieß es ruhig bleiben und …
General Wlassow blickte auf den zugefrorenen Fluss hinab. Die Zangenbewegung der Verzweiflung und eines Verantwortungsgefühls ohne Hoffnung auf Erfolg packten sein Herz, bis er fast aufstöhnte. Aber plötzlich spürte er einen inneren Frieden, und er murmelte, ohne genau zu wissen, was er da sagte: zwischen Sojas Brüste.
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Und Folgendes hat er, so stelle ich es mir vor, mit diesen Worten gemeint.
Weil er ein hervorragender, charismatischer Befehlshaber war, der seinen Männern immer ein Gefühl von Brüderlichkeit vermittelte, und
weil er immer aufrichtig handelte, dürfen wir annehmen, dass Wlassow schon zu jener Einsicht gefunden hatte, die der Kommunismus im vergangenen Vierteljahrhundert mit allen Mitteln hatte zerstören wollen, dass nämlich die Sowjetunion tatsächlich eine Union war, ein einziger, verzweifelt umkämpfter Organismus, dessen Überlebenschancen sich auf lange Sicht nur durch selbstlose Koordinierung aller einzelnen Zellen, Tentakel, Zilien und integrierten Organismen verbessern lassen würde (also durch Gleichschaltung, wie ihr faschistischer Widerpart es nannte); dass sich die überstimulierten endokrinen Ausscheidungen des Hasses, die den Organismus schon so lange halb vergiftet und halb in den Wahnsinn getrieben hatten, nun endlich nutzbringend in Reißzähnen und Stacheln konzentrieren und gegen Deutschland einsetzen ließen, das niederzuwerfen sich sogar als edles Ziel definieren ließ, da es zuerst zugeschlagen hatte.
Was die Massen anging, die brauchten Sojas tote Brüste, um sich an ihnen zu laben. Sie labten sich. Danach wirkte auch in ihnen das Gift der Entschlossenheit.
Sojas Schicksal infizierte und stärkte den Geist der lachenden und Zigaretten rauchenden Pilotinnen der Nachtbomber und machte sie hart, genau wie die Bauernjungen, die mit Gewehren auf deutsche Panzer schossen, und sogar den Genossen Stalin persönlich, dessen Reden nun jedes Mal mit der Formel endeten: Tod den faschistischen Invasoren. Sojas gefrorenes Blut, dunkler als Stahl, schärfte die erhobenen Säbel der Kosaken, die auf die
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