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schweren grauen fotografischen Platten des Mythos zugaloppierten. Sojas Tod wurde ein Film (Sojusdetfilm, 1944), mit Filmmusik von Schostakowitsch. Jahrzehnte nach dem Krieg erstanden Erinnerungen an Soja in der Figur der Nixe Loreley wieder auf, die in der »Todessinfonie« desselben Komponisten ein unwiderstehliches Selbstmordlied singt. Da war Sojas Leiche schon russische Landschaft geworden, und ich meine nicht nur, dass man Straßen und Panzer nach ihr benannte, was man auch tat;
6 nein, Russland selbst verwandelte sich in Soja, und wenn General Wlassow die Karten studierte, weil er seine Sturmbrigaden der faschistischen Heeresgruppe Mitte entgegenwerfen wollte, kam es ihm vor, als blicke er auf den Körper einer jungen Riesin unter dem Schnee. Ihre Arme und Beine waren Hügelketten, deren geliebte und vertraute Konturen ihm helfen würden, ihre tausend Lippen Panzerabwehrgräben, an denen die Deutschen aufgehalten
wurden und sich verausgabten, ihr vom Glitzern der Schützengräben weißgoldener Schoß war ein Bunker, der neue Divisionen, Flugzeuge und T-34-Panzer ohne Zahl gebären würde – ja, als Jungfrau war sie gestorben, aber nun war sie im wahrsten Sinne des Wortes zum Mutterland geworden! Ihre Haare waren das vereiste Dickicht, das den Partisanen für ihre Angriffe auf den Feind jederzeit als Hinterhalt dienen konnte, ihre Brüste die Punkte strategischer Konzentration, deren Einrichtung die Rote Armee retten würde – und zwischen den Brüsten lag das herrlich weiße und weiche Tal; dort konnte Wlassow, wenn all sein Streben zum Ende gekommen war, seinen Kopf betten.
Saubere Hände
… jeder Versuch, den Altruismus als Weg der Transformation einer antagonistischen Gesellschaft nach nichtegoistischen Prinzipien darzustellen, führt letztendlich zu ideologischer Heuchelei und verstellt den Blick auf den Antagonismus der Klassenbeziehungen.
– Große Sowjetische Enzyklopädie
1
Sie sagten ihm: Ein Idealist wie du gibt einen fanatischen Parteigenossen ab.
Er lächelte rasch, ein Lächeln, dem drei Zähne fehlten. In seiner Brust breitete der Zorn die Schwingen.
Also wurde er Nazi. Er hob den rechten Arm. Der Aufnahmeantrag für diewar der nächste Schritt. Auch das war nicht schwerer, als den nächstbesten Juden einzufangen. Kurt Gerstein wurde mit offenen Armen empfangen. Er war blond und blauäugig, und auch sein Stammbaum ließ nichts zu wünschen übrig: hundertprozentig arisch! Zudem war er gebildet (Bergbauingenieur), ein ruhiger Vertreter und an die Arbeit im Verband gewöhnt. Bis wir alle Gruppierungen, Klubs und Vereine ganz zum Sprachrohr des Führerwillens gemacht hatten, war Gerstein im Nationalrat des Christlichen Vereins junger Männer tätig gewesen, in ebenso verantwortlicher wie harmloser Stellung. Auch wenn es ihm bisher an Gelegenheit gemangelt hatte, den »Kadavergehorsam« unserer Alten Kämpfer zu zeigen, war er doch mehr als ein Zigarrenverkäufer unter vielen.
Und so beschritt er jenen Schicksalsweg, dessen Pflaster aus angetretenen Männern besteht; er gesellte sich zu den Hunderten, die den Eid sprachen. Bogengänge im Fackelschein setzten den Abend ins Licht. Sein kurzer Dolch trug die Gravur:Himmler lächelte ihm aus der Ferne zu, und im Dunkel lag dieses Lächeln wie ein Sonnenstrahl auf der Schulter eines Mörders, ein lichter Flecken auf einer dicken, achselzuckenden, von Wolle bedeckten Schulter mit Adler und Hakenkreuz darauf; Sonne auf dem diamantenen
Schulterstück, Sonne auf der bleichen, unbarmherzigen Wange des behelmten, in den Kinnriemen gezwungenen Gesichts.
Sie hätten sich unmöglich vorstellen können, was ihn trieb: Seine Schwägerin Bertha war in Hadamar euthanasiert worden. Er wollte wissen, was sonst noch im Namen des Führers geschah; er war auf eine Vollmacht aus, die schwarzen, mit dem Wortgestempelten Ordner zu öffnen; er wollte die Akten lesen, in deren Stempelrund der Adler das Hakenkreuz in seinen Fängen hielt.
Paradoxerweise brachten sie dieses unreine Element in der Abteilung für Hygiene unter. Er war allgemein beliebt. Er optimierte die Prozeduren zur Desinfektion von Soldaten und Kriegsgefangenen.
2
Am 17.8.42, drei Monate nach dem Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Heydrich, stand Gerstein vor dem Schreibtisch Hans Günthers, des Vertreters von Adolf Eichmann höchstpersönlich. Es war an der Zeit, jedem einzelnen der zahllosen Bände mit dem Titel Historia Polski ein neues Kapitel hinzuzufügen. Günther, der
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