Europe Central
Seiten nur deshalb fielen, weil ihnen ihre Oberkommandos aus Angst, Eitelkeit oder Unfähigkeit den Rückzug verboten hatten? Oder, um die Sache noch weiter zu treiben, was ist mit den vielen Toden, die wir zu Friedenszeiten sterben? In diesem Licht betrachtet, hat Sojas Schicksal etwas höchst Gewöhnliches.
2
In jenen Tagen bedeutete Neutralität bestenfalls, dass man keine Freunde hatte, während die Zugehörigkeit zu einer Seite das Todesurteil der anderen herausforderte. Außerdem wurden diese Strafen meist über die Unschuldigen verhängt. Für jeden von Partisanen getöteten deutschen Soldaten wurden zwischen fünfzig und hundert Geiseln aus der Zivilbevölkerung an die Wand gestellt. Folglich waren es keine »Verräter«, die Soja Kosmodemjanskaja, angesehenes Mitglied des Moskauer Komsomol, bei der Feldpolizei anzeigten, es war eine Versammlung der vernünftigen Dorfbewohner. Wenn schon jemand für diesen offensichtlich übereilten, ja, widersinnigen Akt an den Galgen musste, warum dann nicht die Täterin, die sie alle ungefragt in Gefahr gebracht hatte? Und siehe, sie kamen gerade noch rechtzeitig. Mit dem Blick aus dem Fenster des Hauses, das einmal die Schule gewesen war, saß der Leutnant vom SD da. (Die Lehrerin hatte er mit der ersten Ladung Geiseln aufhängen lassen, ganz zum Schluss war ihr der hochhackige Schuh vom Fuß gerutscht; das wusste er noch.) Er deutete unbestimmt auf die Hütten gegenüber und sagte: Verhaften, den ganzen Abschaum. – In diesem Augenblick trat die Abordnung aus dem Dorf ein.
Auf einer Fotografie, die ein Bauernsoldat, auf der Suche nach einer Wurst oder Armbanduhr vielleicht, am Körper eines in der Schlacht gefallenen Faschisten fand, sehen wir Soja (die den Kampfnamen Tanja trug) mit gesenktem Kopf durch den Schnee zu ihrer Hinrichtung humpeln, sie trägt schon ein Schild mit einer Selbstbezichtigung um den Hals. Man schreibt den 29. November 1941. Im September hat sie ihren 18. Geburtstag gefeiert. Ein Auflauf aus jungen Deutschen begleitet sie und starrt starrt sie lüstern abschätzig an, wie in einem Tanzlokal.
Nun ist sie angekommen. Der Schnee unter ihren Sohlen ist hart. Eine dunkelovale Mauer aus Gaffern – Faschisten, deren doppelte Knopfreihen stumpf auf ihren Wintermänteln glänzen; Frauen aus dem Dorf mit Kopftüchern, auf deren Gesichtern derselbe blasse Ernst geschrieben steht, den ihre Großmütter für jede Kamera oder jeden Fremden aufgesetzt hätten; in der ersten Reihe kleine, dunkle eingemummelte Kinder – umschließt die Szene. Neben dem stabilen dreibeinigen Galgen, der aus dem Bild ragt, erlaubt eine pyramidenförmige Plattform einem Beteiligten, dem Henker, den Aufstieg, während ein großer Schemel auf den anderen wartet. Soja steht zwischen zwei hochgewachsenen Soldaten. Sie ballt die bleichen Fäuste, schüttelt sich die dunklen Haare
aus den Augen, dreht den Kopf mit Schwung zu einem der Soldaten hin, der strammsteht, um ihrem Blick standzuhalten. Sie sagt: Ihr könnt nicht alle hundertneunzig Millionen Russen aufhängen.
2
Manche behaupten, es seien General Wlassows Soldaten gewesen, die sie zu Beginn der Moskauer Gegenoffensive im Monat darauf gefunden haben. Ich kann das kaum glauben, denn Wlassow, dem meine Sympathie gehört, ohne dass ich ihn mir zum Vorbild machen würde, hätte sicher gezögert, mit den Faschisten zu kollaborieren, wäre er so früh auf einen derart schlagenden Beweis ihrer Grausamkeit gestoßen. Zweifellos hat er das letzte Foto gesehen (aufgenommen, wie ich gelesen habe, vom Prawda -Reporter Lidin), das uns ihre nackte Leiche im Schnee zeigt, den Kopf geradezu wollüstig zurückgeworfen, die Augen mit den langen Wimpern zugefroren, die Lippen zusammengebissen, wie um die eingeschlagenen Zähne zu schützen, dazu diese Schlinge, inzwischen so hart wie ein Stahlseil, die ihr noch immer in den Hals schneidet, und das Gesicht vor Blut zu einer griechischen Maske angeschwollen. Vielleicht hatte Wlassow sich eingeredet, das Bild sei eine Propagandafälschung, oder gar, dass sie bei ausreichend drakonischer Auslegung des Kriegsrechts als Angehörige einer Fünften Kolonne betrachtet werden könnte, die den Tod verdient hätte.
Es war der Abend vor der Rückeroberung von Solnetschnogorsk. Wlassow ging in einem Flussbett auf und ab, das aussah wie der vereiste, mit Schnee verkrustete Hohlweg zwischen Sojas Brüsten. Neben ihm stiefelte ein Späher, der eben von den Linien der Faschisten zurückgekehrt war. Die
Weitere Kostenlose Bücher