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der ein großer Liebling des verstorbenen Genossen Stalin gewesen sein soll. Der letzte Feldmarschall stand da und lauschte mit höflichem Lächeln. Er hasste die Dissonanzen, die für ihn weniger nach Melodie klangen als nach Krieg. Vor den schwarz gewandeten Musikern leuchteten die Notenblätter nur umso weißer, wie alpine Schneefelder mit den Schattenrissen von Felsen dazwischen; aber das Publi
kum, das sie umstand, war grau und greisenhaft, und auf der anderen Straßenseite stank in einem abgebrannten Haus ein toter Hund. Acht Jahre waren seit dem Feuersturm vergangen, aber in unserer Deutschen Demokratischen Republik verging die Zeit weniger schnell, Veränderung war nur in kontrollierten winzigen Dosen erlaubt, unserer zarten Natur wegen, die bald vom antifaschistischen Schutzwall behütet werden würde. Ab und zu stieß man beim Wiederaufbau noch auf Überreste, die an die verwitterten Berliner Statuen aus schlesischem Sandstein gemahnten. Über den Musikern hing ein mit einem roten Stern geschmücktes Banner:, und nun wagten die Behörden weder, es abzuhängen, noch, es dort zu lassen; sie mussten auf ein Wort des Genossen Chruschtschow warten.
Man wies ihm eine Villa zu und erlaubte ihm, dem Volk in einem mittleren Rang bei der Volkspolizei zu dienen. Soweit die Nachkriegslage es zuließ, bestätigte er die Einschätzung, die Oberst Heim in der guten alten Zeit von ihm gegeben hatte: Gepflegt und elegant, mit schmalen Händen, der weiße Streifen des Kragens, die tadellosen Stiefel …
90 Was seine Villa angeht, die sich, wie beide Parteien es vorzogen, abgelegen im Viertel Plattleite auf einem Hügel über der Stadt befand, kann ich berichten (denn ich bin dort gewesen), dass man von ihren Fenstern und Veranden aus tief ins Gestrüpp blicken kann, und, jenseits davon, noch tiefer hinab in ein geheimnisvolles Baumdickicht: in die Wälder Mitteleuropas. Wenn seine Gesundheit und Zeit es erlaubten, schritt der alte Mann abgetretene Stufen hinab, trat dann durch einen Bogen aus Beton auf die untere Aussichtsplattform, geschützt von den Balkonen, den runden Türmchen und Terrassen über sich. Auf der Wiese pflückte eine alte Dame mit rötlichem Haar Blumen. Coca hätte es hier gefallen; sie war schon im Jahr 47 in Baden-Baden gestorben, wie man ihn hatte wissen lassen. Sein Sohn Ernst durfte ihn von Zeit zu Zeit besuchen, vermutlich, weil die Nazis ihn eine Weile in ein KZ gesteckt hatten, was ihn zum Antifaschisten machte. Der Zwillingsbruder weilte nun in weiter Ferne: anno 44 in Anzio im Kampf gefallen. Was Olga angeht, sie kam nie; Ernst sagte, es gehe ihr gut, obwohl ihr Baron im Krieg viel Geld verloren habe; er wusste nicht, warum sie sich nie meldete. Mit halb gelähmten Fingern schrieb der Vater ihr einen Glückwunsch zum zweiundvierzigsten Geburtstag. Ernst versprach ihm, den Brief mit auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu neh
men. Der Sohn war ihm wirklich sehr ergeben. Ich habe gehört (auch wenn es sich nicht verifizieren lässt), dass er in seinem Schlafzimmer in jenem revanchistischen Marionettenstaat namens Bundesrepublik aller Entnazifizierung zum Trotz eine in Silber gerahmte Fotografie jener Konferenz in Poltawa im Jahr 42 bewahrte, mit der der Fall Blau begonnen hatte: Da stand Heusinger, die Faust auf die Kante des Kartentischs gestützt, und Ernsts hochgewachsener, gutaussehender Vater stand zwischen Heusinger und unserem Führer, einen halben Schritt hinter den beiden, die Hände im Rücken verschränkt; während von Weichs von der 2. Armee freundlich auf die weiße Winterwelt der Karte herabblickte, deren Ränder der Führer mit beiden Händen packte, als wollte er sie im nächsten Augenblick entzweireißen. Ernst konnte sich nie entscheiden, ob er die Gestalt seines Vaters heraustrennen und vergrößern lassen sollte oder nicht.
91 – Die beiden Männer zündeten sich ihre Zigaretten an und blickten hinab auf Europa. Die Luft war an jenem Nachmittag sehr feucht; sie mussten sich mit den tiefhängenden Sommerwolken Sachsens abfinden. Ernst sagte, seine Verwundung, sein Souvenir aus Stalingrad, wie er sie nannte, sei ihm nachts manchmal lästig. Er schien sich gehenzulassen. Er war dick und schlaff geworden, rasierte sich nicht gründlich und hatte Ringe unter den Augen. Einmal sagte er: Du ahnst nicht, wie ich mich gefreut habe, als ich von deinem Eisernen Kreuz gehört habe. Einmal habe ich dich von Weitem gesehen, während der Kämpfe in Charkow … – Wenn du
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