Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
»schlaue Hans« genannt, gehörte zu jenen, die nie der Glaube verlässt, dass die Aufgaben des Tages sich mit reiner Kraft bewältigen ließen. Versagt diese Methode, packt den Optimisten der Zorn. Vorgesetzte wie er werden gefürchtet und respektiert. Unser Führer liebt sie.
    Reisen Sie gerne, Gerstein?
    Ich stehe bereit, Herr Sturmbannführer.
    Eine Antwort nach meinem Geschmack! Morgen geht es nach Polen. Ist Ihnen ein Dr. Pfannenstiel bekannt?
    Aus Marburg? Gewiss, Herr Sturmbannführer. Ein Professor der Hygiene; wir haben korrespondiert …
    Gut. Er wird uns begleiten. Besorgen Sie einhundert Kilogramm Blausäure, erste Qualität. Benötigen Sie eine Order?
    Nein, Herr Sturmbannführer, so viel habe ich am Lager.
    Am besten lassen Sie direkt hierher liefern. Meine Ordonanzen werden alles in den Gepäckwagen verladen.
    Zu Befehl, Herr Sturmbannführer.
    Das ist alles. Hier ist Ihre Fahrkarte.
    Zu Befehl, Herr Sturmbannführer.
    Noch etwas, Gerstein. Hören Sie gut zu. Wir haben es hier mit einer streng geheimen Angelegenheit zu tun – der allergeheimsten. Verstanden? Wer ein Wort darüber verliert, wird auf der Stelle erschossen.
1
    Ich verstehe, Herr Sturmbannführer.
    Heil Hitler!
    Heil Hitler, sagte Gerstein und schlug die Hacken zusammen.
    In ihrem Abteil des Expresszuges nach Warschau saß ein schönes, sanftes polnisches Mädchen, das betont langsam die Seiten seiner deutschen Illustrierten umblätterte; die nackte Haut an seiner Kehle war so vollkommen wie eine politische Idee. Es mochte ein Freudenmädchen sein. Sogleich tauchte ein Wehrmachtsoffizier mittleren Alters auf und nahm neben ihm Platz. An der Brust trug er ein Ritterkreuz, das er unruhig befingerte. Gerstein sprang auf und salutierte; der Leutnant winkte ab. Ruhelos schwammen die kleinen Augen in seinem erschöpften, verzweifelten Gesicht umher. Dann flüsterte er dem Mädchen etwas zu. Obwohl es ihm jetzt das erste flüchtige Lächeln schenkte, schien es seltsamerweise Gerstein zu sein, den es dabei ansah. Der junge Mann senkte den Blick.
    Dr. Pfannenstiel trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett. Schließlich ließ er sich zu der Bemerkung herab: Ganz wie der Führer sagt, nach so vielen Generationen sitzen wir Goten endlich wieder im Sattel.
    Zweifelsohne, sagte Sturmbannführer Günther.
    Der Leutnant grinste mokant (denn der arme Dr. Pfannenstiel war ungelogen so schwer wie ein Laster, Marke Opel Blitz). Auch das Mädchen lächelte, strich ihrem Liebhaber über den Ärmel, aber das Lächeln verflüchtigte sich gleich wieder. Der Leutnant wandte sich an Gerstein, wie die Menschen es so oft taten, und fragte an: Und wohin reitet ihr Goten?
    Nach Warschau, log der junge Mann freundlich. Und selbst, Herr Oberstleutnant?
    Ich bringe Basia zu ihren Eltern. Dann geht es postwendend zurück an die Ostfront!
    Wichtigtuerisch rückte er sich das Ritterkreuz zurecht. Gerstein fand ihn einigermaßen erbärmlich.
    Und wann kommst du mich holen?, fragte das Mädchen schwach und lustlos.
    Keine Angst, Liebling. Wenn Stalingrad eingenommen ist, wird es Urlaubsscheine regnen.
    Die sommergrünen Wälder wucherten wie verrückt, von Gräueln gedüngt. Die Fülle des Blattwerks war so verschwenderisch, dass es Gerstein vorkam, als führe der Zug nun in die Erde selbst ein, und in diesem Traumbild glitzerten die Blätter wie Adern kristallinen Chalzedons. Immerhin war es Abend geworden, und in den Zugfenstern färbte der Himmel sich preußischblau. Vor ihnen lag das noch vollere sommerliche Blätterdunkel der ländlichen Gegenden Polens. (Aber Polen gab es natürlich nicht mehr.) Obwohl Basia duldete, dass der Leutnant ihr die Hand hielt, wandte sie den Blick nicht von Gerstein. Er konnte nicht länger an sich halten und erlaubte seinen Augen, die ihren zu finden. Mit einem Mal, was sicher am sonderbaren Lichteinfall lag, schien ihr Gesicht die Züge seiner ermordeten Schwägerin anzunehmen, und mit einer Stimme, die er allein hören konnte, sagte sie: Sei tapfer, Kurt Gerstein. Ich bin dein Gewissen. Denk an mich, wenn du dunkle Wege gehst, und gib immer dein Bestes.
    Vielleicht war er in Bertha verliebt gewesen. Immer war ihr Lächeln ernst, am Rande der Trauer, und das machte es umso süßer. Sie hatte tiefbraune Augen mit vollen Wimpern und dunkelblondes Haar, das ihr so elegant in die Stirn fiel und sich dann, wobei es ihr die dichten Augenbrauen koste, zurück in Richtung Schläfen schwang und ihr bis hinab auf die Schultern loderte. Ihre

Weitere Kostenlose Bücher