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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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marschierte eine Kolonne Nazi-Krankenschwestern vorbei. Durch das offene Fenster hörte er sie brüllen: Sieg Heil, Sieg Heil! Dalueges Adjutant sagte: Mit Ihnen stimmt irgendetwas nicht, Herr Gerstein. Ich werde Sie melden. – Ger
stein stellte sich aufrecht hin, schlug ihm ins Gesicht, grinste (wobei er ganz bewusst seine Zahnlücken vorzeigte) und sagte: Nur zu, melden Sie mich, Sie käsiger kleiner Judenlümmel! Aber Berlin will wissen, ob diese Dienststelle streng genug gewesen ist, ob Maßnahmen ergriffen wurden. Es heißt zum Beispiel, die weiblichen Einwohner von Lidice seien noch am Leben. Ich werde in Berlin melden, dass ihr hier keine Männer seid, sondern ein Haufen verweichlichter jüdischer Kriecher. – Am Ende, weil er sich so verrückt aufführte, dass er wirklich nur aus Berlin sein konnte, erlaubte man ihm Einsicht in die Akte über Lidice: einhundertunddreiundsiebzig Männer im Dorf erschossen, weitere neunzehn in der Haft beseitigt, sieben Frauen neutralisiert, zweihundertunddrei in Konzentrationslager gebracht und einhundertundfünf Kinder entweder deportiert oder germanisiert, das Dorf ausradiert, alles mit Billigung des Führers persönlich. Das war für Gerstein der nächste Schrecken, nun tat sich die nächste eisenbewehrte Gruft in ihm auf: Er hatte immer gewusst, dass der Schlafwandler eingeweiht war, aber er hatte dieses Wissen vor sich selbst geheim gehalten, wie ein Skelett im Schrank oder etwas Silbernes auf schwarzem Grund.
    Er fuhr zurück nach Berlin und notierte aus dem Gedächtnis die Zahlen aus Lidice. Wieder fielen amerikanische Bomben auf die Reichskanzlei. Jemand, den er nie gesehen hatte, rief ihm etwas zu; er sollte in den Luftschutzkeller. Kalt erwiderte er, er sei beschäftigt. Im selben Augenblick wurde das Hotel Kaiserhof von den Flugzeugen zerstört. Er hörte das Mündungsfeuer unserer Flakgeschütze, dann die Entwarnung. Dann versuchte er erneut, Baron von Otter anzurufen. Die Leitung war tot. Als die Verbindungen wieder standen, rief er drei Menschen an, die er kaum kannte, alle legten rasch und leise wieder auf. Dann kam die Sekretärin aus dem Fuhrpark mit Ersatzkaffee. Sie sagte ganz sanft: Entschuldigen Sie, Herr Obersturmführer, aber was man unter der Uniform ist, braucht ja niemand zu wissen, den's nichts angeht.
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    Er träumte, dass er in der Erde grub und auf einen goldenen Schädel mit Rubinen als Augen stieß – einen Totenkopf, schön und furchterregend, so wie die Uniform, die er trug; im Aufwachen das Bild, wie er den Schädel in die Sonne hielt.
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    Wieder rief ihn Prag per Telefon; er nahm den Schnellzug. Im Büro wartete der »Schlaue Hans« Günther.
    Noch mehr Geheimsachen für Sie, Gerstein. Streng geheim.
    Zu Befehl, Herr Hauptmann.
    Bringen Sie diesen Koffer Herrn Lang in der Reichsbank und sagen Sie ihm, er komme von mir. Bitten Sie nicht um eine Quittung. Haben Sie verstanden?
    Alles klar, danke, Herr Hauptmann.
    Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, Gerstein. Sie sind ein hervorragender junger Mann. Das ist alles. Heil Hitler!
    Heil Hitler!
    So ein schwerer Koffer! Er wusste nur zu gut, was darin war; jetzt hatte der Schlaue Hans ihm sein Vertrauen bewiesen. Er saß im Schnellzug nach Berlin, den Blick aus dem Fenster in die sommerliche Landschaft gerichtet. Stunde auf Stunde saßen die anderen Reisenden in seinem Abteil schweigend da und blickten ihn vor Angst nicht an. Eine alte Frau hustete. Gerstein schnipste mit dem Fingernagel an den Totenkopf an seiner Mütze und wandte sich ihr langsam zu, mit versteinerter Miene. Die Frau senkte den Kopf. Dann kam der Schaffner. Gerstein hielt seinen Fahrschein hin und starrte den Mann an, bis er wegsah. Er zündete sich eine Zigarette an. Jetzt erschien die lange hohe Fassade der Reichsbank mit ihren Hakenkreuzbannern und den fünf Reihen rechteckiger Fensteröffnungen, die an die Schießscharten für die pfeilbewehrten Verteidiger mittelalterlicher Burgen erinnerten. Herr Lang erwartete ihn. Gemeinsam wogen sie das Gold: zweiundzwanzig Kilo. Für Gerstein war etwas schrecklich Unreines an der bräunlichgelben Masse. Lag es daran, dass sie aus den Mündern von Toten stammte, oder war es das Jüdische an ihr, das sie besudelte? Dies war eines der schwärzesten Geheimnisse. Er schloss die Augen und schaltete in der Gaskammer das Licht aus.
    Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Obersturmführer?
    Nein, ich habe nur versucht, das Gold in Reichsmark umzurechnen.
    Ganz recht. Nun, das macht

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