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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Gerstein gar nichts gesagt hatte, aber im Kriege lernt man ziemlich schnell, seinen Nebenmann abzuschätzen: Ist er kalt und hart genug für unsere Zeit? Sorli sagte Gerstein ins Gesicht, er müsse eines dieser Etappenschweine sein, die erwarten, dass andere sich die Hände für sie schmutzig machen. (Dr. Pfannenstiel war ähnlicher Ansicht, aber er drückte es poetischer aus: In unserem Nationalepos gewann Siegfried Brünhilde für Gunther, und manche sagen gar, er habe sie für ihn entjungfert, so schwach war der König. Wir ehrlichen Arbeiter sind Siegfried gleich, nicht Gunther! Meinen Sie nicht auch, mein lieber Gerstein?) Inzwischen war die ganze Truppe der Meinung, man sollte Eichmann von Gersteins Haltung in Kenntnis setzen. Mit gesundem fanatischen Rassenhass lachte Gerstein, so laut er konnte, und fing an, einem toten Juden ins Gesicht zu treten. Er sagte: Sieht so aus, als wäre der Jid die Treppe hinuntergefallen. – Das beschwichtigte sie; er hatte seine Treue bewiesen. Da mochte Sorli ihn. Nachher tranken sie alle Schnaps. Sorli prahlte mit allem Möglichen – mehr Futter für Gersteins Anklageschrift. Sorli war ein Mann von Kultur; er musste immerzu von dem einen Mal erzählen, als er Lizzi Waldmüller in »Traum einer Nacht« gesehen hatte, damals, 1930 am Nollendorfplatz. Dann war es wieder Zeit, die nächste Ladung Juden zu erschießen. Diesmal würde Kurt Gerstein doch sicher seinen harten Kern zeigen! …
    Wie konnte Gerstein weitermachen? Und doch soll der blonde Mann heimlich nach Finnland gereist sein, um den Menschen dort von der Endlösung zu berichten. Erschöpft und angststarr kehrte er zurück in das Büro mit den Hitlerbildern an allen Wänden, der Signal auf dem Couchtisch und der kleinen Fotografie auf dem Schreibtisch, mit der Widmung des Abgelichteten, des-Oberdienstleiters Viktor Brack, von dessen grauem, abnorm hageren Gesicht sowohl das Elend des Alters als auch eine gewisse angeborene Versteinerung abzulesen waren: Kurt Gerstein, in Brüderlichkeit ; Brack war im Grunde ein hochanständiger, korrekter Mann und ein Tatmensch dazu; er vor allem war die Seele der Aktion T4, wofür die Amerikaner ihn am 2.6.48 hängen würden; einmal war Gerstein das irrwitzige, geradezu selbstmörderische Risiko eingegangen, ihm zu sagen: Herr Oberführer, etwas an Ihnen,
ja, es ist Ihr Lächeln, erinnert mich an meine verstorbene Schwägerin …
    Bald würde das Telefon läuten. Das Telefon würde ihn nach Auschwitz schicken. Er schlug die neueste Ausgabe der Signal auf und las einen Artikel über die Lebensbedingungen in Amerika: In verschiedenen Großstädten wurden die Lehrer von Neger-Schulkindern eingeschüchtert. Selbst die Amerikaner merkten langsam, dass man Maßnahmen ergreifen musste. Im Hof brüllten-Leute, und dann rumpelte der nächste Gefangenentransport über das Kopfsteinpflaster davon, während die Schreibkraft aus dem Fuhrpark ihm seinen Ersatzkaffee brachte. Heute gab es keine Luftangriffe. Er betete direkt vor ihren Augen.
    Er versuchte, Baron von Otter anzurufen, der wieder in Rumänien war, wie man ihm sagte. Was war mit Bischof Dibelius? Er war ein gemäßigter Mann; er sprach sich lediglich für den Boykott jüdischer Unternehmen aus.
32 Zitternd lief Gerstein nach unten.
    Er muss einen seltsamen Anblick abgegeben haben, aber der Portier mit dem Hakenkreuz am Revers hielt ihm mit gleichmütigem Heil Hitler! die Tür auf. Wo konnte er hin? Er musste gehen und weiter gehen, um einen klaren Kopf zu bekommen … Auf dem Kurfürstendamm radelte eine rotblonde Frau mit langen blassrosa Beinen an ihm vorbei; alles an ihr war rosa; das Rotblond ihrer Haare erinnerte an das »gute Rotgold«, das die alten Nordmannen so schätzten. Warum arbeitete sie nicht in einer Munitionsfabrik? Sie musste einen wichtigen Mann haben. Alles war wie immer. Im Tiergarten ritt ein Polizist auf einem braunen Pferd vorüber, halb von den Bäumen verdeckt …
    Das Telefon läutete. Es beorderte ihn nach Böhmen. Der Schlaue Hans hatte ein paar Juden zu viel.
    Ein Zeitzeuge behauptet (diese Geschichte kann ich kaum glauben), ihn beim Betreten der Prager Burg gesehen zu haben, des Amtssitzes unseres Reichsprotektors von Böhmen und Mähren, wo er unter dem Vorwand der besseren Zusammenarbeit zwischen den Oberabschnitten den persönlichen Stab von-Oberst-Gruppenführer Daluege über gewisse Geheimaktionen gegen die Tschechen zur Vergeltung für das Attentat auf Heydrich befragt haben soll. Draußen

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